Nonnen und Mönche

 

von Tilman Osterwold

1991

 

Das Gesicht zeigt sich als eine Öffnung nach außen und ein Weg nach innen. Zugleich ist es Träger des Verborgenen, des Unausgesprochenen, ist wissend und unwissend, es hütet die Gedanken. »Die Gedanken sind frei«: in ein Gesicht blicken, ein Portrait erblicken, das seinerseits anblickt und sich zugänglich gibt, ohne alles preiszugeben. Wir suchen den Schlüssel nach innen, ertappen die bewußten und unbewußten Öffnungen des Gesichtes, die uns innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen den Weg weisen. Doch die Möglichkeiten bewußter Entstellung durch Mimik, Gestik, Make-up, durch Gehabe, leiten die Kommunikation auf Umwege und irritieren die Wahrnehmung einer aufrichtigen Existenz durch Verstellung und Verfremdung. Die zentralen zwischenmenschlichen Kontakte über das »Medium« des Gesichtes sind undurchdringlich. Im Gegenüber verselbständigen sich die Erwartungen, Vorurteile, Prägungen, die eingrenzenden Wertvorstellungen, Sympathie und Antipathie, auch Anpassungen und Unterordnungen an die eigenen Interessen und Ordnungen. Wahrhaftigkeit ist ständig auf die Probe gestellt und Unbefangenheit sowie Unmittelbarkeit in der Annäherung durch Denkmuster überlagert.

Die Fotos von Roland Fischer thematisieren diese Grunderfahrungen des Sehens als Grunderfahrungen von Existenz und ihrer bildlichen Übertragbarkeit. In diesem Sinne ist das Gesicht eine Metapher auch für die Kunst – als das Gegenüberliegende, vom Lebendigen Gezeichnete, als das Bild und das Objekt des Sehens, das seinerseits aktiv und kommunikativ angelegt ist. Das Gesicht ist eine Metapher für das zu Erkennende in der Kunst, für die Erfahrbarkeit von Erfahrung und von Authentizität. Die eigengesetzlichen Regeln einer eigenständigen Sprachform bilden ein »Bild« der Öffnung und gleichzeitig Verstellung, was den Regulativen zwischenmenschlicher Beziehungen und den darin enthaltenen Psychologien und Wahrnehmungsformen entspricht: Kunst und Bild als eine elementare Sprachform des Menschen. Roland Fischer thematisiert unsere Position des Ansehens, des Betrachtens von etwas, das zugleich Bild (Form und Medium) und Mensch (Form und Inhalt) ist. Sein Bild stellt sich zwischen das Subjekt Betrachter und das Subjekt-Objekt des Betrachteten. Es relativiert diese Positionen. Der Betrachter wird in der Frontalität der Bilder zum seinerseits Erblickten; die »Nonnen und Mönche« sehen zurück, ohne zu reagieren, sie sehen aus sich selbst und ihrer Unerkanntheit heraus, sie betrachten, ohne »uns« wahrzunehmen. Wir kennen nicht das Ziel ihrer Betrachtung, wenn sie in den fotografischen Apparat sehen, der – nur ganz allgemein und anonym – für unsere Position und die darin enthaltenen Vorgaben in der Annäherung an die Wirklichkeit steht. Denn der Künstler ist seinerseits ein reagierendes und agierendes betrachtendes Subjekt, das seine künstlerischen Augen dezidiert und subjektiv einsetzt.

Der französische Religionsphilosoph Olivier Clement zitiert in seinem Text über Roland Fischer für den Katalog der Ausstellung im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris einen Satz von Meister Ekkehard, dessen Essenz in den Bildern Roland Fischers zur Frage zu erwachsen scheint: »Jede Person, jedes Gesicht ist kostbarer als das ganze Universum.« Keine weiteren Philosophien über diesen Satz! – Aber die Essenz dieser Aussage relativiert unsere gängigen Wertvorstellungen von Individuum und Ganzheit, von Subjektivität und Universalität: Die »Kostbarkeit« ist auf die Spiegelung des Universellen im Gesicht gedanklich zugespitzt. Das Gesicht trägt Universum, Leben, Natur mit der endlosen Möglichkeit individueller Ausformungen in sich. So ist es auch ein Schlüssel zur Erkennbarkeit universeller Wahrheiten.

Die Künstlichkeit der Abbildung »interpretiert« die Maßstäblichkeit des individuellen Gesichtes als Spiegel des universellen Lebens in der Öffnung nach innen. Die Physiognomie als Ausdrucks-Sprache des Menschen wird ihrerseits durch ein Medium der Darstellung weiter gespiegelt, das – wie die Fotografie – in seiner medienspezifischen Eigenart wirklichkeitsgetreue Authentizität unterstellt. Dieses Image liegt begründet in der dokumentarischen und reproduktiven Dimension des Foto-Bildes, das die authentische Wahrnehmung und Präsenz des Dargestellten beeinflußt und die Realität des Betrachters – seiner Augen – vorgibt. Das Foto läßt seine Manipulationsfahigkeit insoweit vergessen, als es mit der Wahrheit zu lügen und mit der Lüge zu »Wahrheiten« versteht. Der Künstler hat die Möglichkeit, diesen massenmedial so erfolgreichen Prozeß der Entfremdung von der Wirklichkeit durch das sich authentisch artikulierende Foto-Bild zu durchschauen und durchsichtig zu machen. Roland Fischer thematisiert das Medium Foto und versucht, die Apparatur als reagierendes und gestaltendes Moment neu zu erschließen – nicht nur als ein Medium für die Kunst, sondern auch als ein Medium für den Menschen: Das Foto-Bild beinhaltet – stillgehaltene – Lebendigkeit, die einerseits dem Bewegungsablauf des Portraitierten entnommen ist, momenthaft aus ihm entspringt, und andererseits aber auch atypisch und unnatürlich ist für lebendige Verhaltensformen. Das Procedere fotografischer Arbeitsstrukturen – im Verhältnis von individueller Kreativität und anonymer technischer Mechanik – auf dem Weg zu einer Art bildhaften Erkenntnis steigert sich in der klerikalen Zugehörigkeit der Dargestellten. »Nonnen und Mönchen« sind eine Gruppierung, die Stille und Zurückhaltung verkörpert und den Weg der Erkenntnis über Meditation und Kormnunikation im Schweigen sucht. Sie sind eben gerade nicht an der Selbstdarstellung interessiert – wollen also keinesfalls unbedingt fotografiert werden.

Roland Fischer ist ein konzeptioneller Fotograf, indem er über das Fotografieren von Menschen, »Nonnen und Mönchen«, die Funktion des fotografischen Bildes, seiner Herstellungsbedingungen und damit auch die Rolle seiner eigenen Autorschaft definiert. Konzept und Inhalt seiner Arbeit ist die Struktur des fotografischen Bildes gegenüber einem Sujet, das die Wahrnehmungstendenzen des Menschen herausfordert. Seine Bilder wirken wie ein Detektor, der mit äußerster Akribie alles Sichtbare sichtbar macht, um zu zeigen, daß im bildhaften Dokument die Essenz der Dargestellten – ihr Charakter, ihre Gedanken, ihre Seele – unsichtbar und unerreichbar bleibt. Die extreme Öffnung nach außen – im Gesicht, im pointiert getroffenen physiognomischen Ausdruck, ist übertragen ins »Gesicht« des fotografischen und künstlerischen Bildes. Dieses zeigt, daß der lebendige Kern letztendlich verhüllt bleibt und durch äußere Eingriffe – Beobachtung und Verbildlichung – unverrückbar und unzerstörbar ist. Das Innere dringt zwar nach außen, entzieht sich aber im Wesentlichen der Wahrnehmbarkeit; die unmittelbare Nähe und Vordergründigkeit, die von der Ästhetik und Form dieses Foto-Bildes erzeugt wird, artikuliert und steigert die extreme Distanz. Oberfläche und Physiognomie rückt die Essenz des »kostbaren« Gesichtes in die Ferne, zurück in die Stille. Das fotografische Bild funktioniert als zweites »Gesicht«, das sich in einer gesteigerten Form der Annäherung zwischen die Interessen, Sympathien und Wertvorstellungen von Betrachter und Gegenüber stellt und damit Kommunikation und Kontaktnahme außerhalb alltäglicher Erfahrungsebenen realisierbar macht, obwohl jene Wahrnehmungsgesetze den alltäglichen Erfahrungen entstammen.

Gesichter und Bilder sind als Spannungsflächen und Spiegelungen einer inneren Befindlichkeit sichtbar, die nicht endgültig wahrgenoımnen werden will und kann. Gesichter und Bilder sind bewegungslos, sprachlos, entrückt, erstarren in der nicht artikulierten Bewegungsmöglichkeit, wo Habitus, Gestik, Sinne, Haut stillhalten und stillgehalten sind. Der Moment, den das Bild erfasst und sucht, und vielleicht auch gefunden hat, artikuliert in der kleinstmöglichen Zeiteinheit die Zeitlosigkeit innerhalb der menschlichen Existenz – als Spiegel des Universalen? Das Bild als Produkt der Zeit wirkt allgegenwärtig, Stille und Bewegungslosigkeit erhalten eine absolute Präsenz. Eine penetrant saubere Ästhetik, Glätte und Vordergründigkeit, die nach Offenheit drängt, markieren in ihrer zugespitzten Ausprägung das Unerreichbare und Unauffindbare im Gesicht des Menschen, des Lebendigen und Wahrhaftigen, so wie es das klerikale Sujet traditionell vorgibt.

Roland Fischer thematisiert in seinen Fotos jene kommunikative Aura, mit der das Bild die Unerreichbarkeit seines Objektes durch das Abbildhafte verkörpert und beinhaltet. Die formspezifschen Eigenarten der Bilder, die ein derartiges Konzept realisieren, zeigen eine unorthodoxe künstlerische Entschiedenheit und selbstbewußte Eigenständigkeit im Umgang mit traditionellen und kunstgeschichtlich geprägten Medien, Bildbegriffen und Motiven. Das Portrait besticht durch Frontalität; die Frontalität des Fotos nimmt auf und forciert die frontal ausgerichtete symmetrische Konstruktion des Gesichtes sowie der rhythmischen und sinnvollen Anordnung seiner physiognomischen Funktionen: eine ideale und ideelle »Klassizität« mit charaktervollen, ungereimten Eigenarten durchmischt (Falten, Rötungen usw.). Hier werden die Wahrnehmungssinne auf besondere Weise akzentuiert: verschlossener Mund, die nach vorne gerichtete Nase, in der Haube verschlossene Ohren, offene Augen, der wechselseitig nach innen gerichtete und außen orientierte, undurchdringliche aber Kontakt suchende Blick (lächelnd, streng, melancholisch, fragend, undurchdringlich …). Die psychologischen Spannungen, die hierin begründet liegen, werden – nur für uns, nicht für die porträtierten »Nonnen und Mönche« – körperlich und bildlich wahrnehmbar und in der Ausschnitthaftigkeit langgeschnittener Gesichter und Figuren gebündelt. Die Assoziation Portrait – Büste verweist auf die Sinngebung menschlichen Kulturverhaltens, das die Ewigkeit sucht und das Moment des Andenkens monumentalisiert, wo das Individuelle in eine universelle Bedeutungsebene tendiert. Die Nonnenhaube, das Habit steigert diese spannungsvolle Kompositionsrichtung von Frontalität: als »Kleid« eines freiwillig gewählten rituellen Aktes der Verhüllung (verschlossene Ohren), als Symbol der Zurückgezogenheit von alltäglichen, individuellen Erfahrungsebenen in Gleichgeordnetheit und ritueller Gebundenheit, in einer universellen Ausrichtung und religiösen Identifikation. Die Verhüllung korrespondiert mit äußerster Öffnung, das Verschlossene mit der Wahrnehmbarkeit jener zentralen Fragen nach Aufrichtigkeit, Wahrheit, Wissen, Gewissen, Vergewisserung. Das fotografische Abbild trägt den Widerspruch im Ausdruck von Öffnung und Verhüllung, die dem Gesicht und dem Bild an sich eigen ist, in sich – und in eine weitere extreme Dimension hinein. Fotografisch auskomponiert in den Bildern Roland Fischers ist jene diesen geistlichen Gesichtern eigene Spannung zwischen Innen und Außen, Vordergrund und Hintergrund, Sehen und Verbergen, Wissen und Nichtwissen. Die Spannungen zwischen Lebendigem und Künstleri- schem, zwischen realen Befindlichkeiten und künstlichen Eingriffen über das Bild thematisiert Roland Fischer zudem in der farblichen Ausleuchtung und Ausprägung der fotografischen Bilder. Das Schwarzweiß des Habits – gestellt vor einen anonym wirkenden Hintergrund – ist konfrontiert mit der undefinierbaren Fleischfarbe und ihren detaillierten Nuancen im Gesicht. Das Universale in der »Kostbarkeit« des Gesichtes – als göttliches Ebenbild – , des zeitlosen, aber im Momenthaften geprägten Ausdrucks, relativiert und hinterfragt das Portrait und umgekehrt. Die Vergrößerung – das Großfoto – steigert das irreale Moment im Erleben der Realität von Bild und Abbild, Subjekt und Objekt, Form und Inhalt: eine Konfrontation auch über körperlich ausgerichtete, physisch registrierbare Wahrnehmungsebenen.

Die konzeptionelle Klarheit und die durch das Foto und seine glänzende, bestechende Oberfläche gegebene Glätte dramatisieren die Bewegungslosigkeit, die Ruhe, das Stillsein und das Stillhalten, das Unsichtbare und Ungesagte, das wie eine »Dissonanz« zur »Auflösung« drängt und in den Zustand des natürlich-lebendigen Bewegungsablaufes zurückzudrängen scheint. Die Ungeschminktheit des Foto-Bildes, seine Schärfe, Präzision und Unnachsichtigkeit bringen das Unerschließbare, die Spannung von innen und außen – über den ausgeformten Blickkontakt – in eine gesteigerte Bildhaftigkeit, wo gleichzeitig die Präsenz des Dargestellten und die Präsenz des fotografischen Apparates sowie des Autoren form-inhaltlich miteinander in Verbindung gebracht sind. Das Bild, das Medium, der Autor und der Inhalt markieren die Grunderfahrungen des Sehens, der Wahrnehmung des Lebendigen und seiner medialen Vermittlung. »Man« ist mit der eigenen Existenz-Form und deren Spiegelungen in Bildern »natürlich« konfrontiert. Die Frage an das Gegenüber erwächst als Frage an einen selbst, und das Bild dazwischen bleibt das sich wieder und wieder verselbständigende Surrogat von Erfahrungen.