Maribel Königer 1995

 
GEDANKEN ZU DREI SERIEN VON ROLAND FISCHER
 

Im Zentrum von Roland Fischers künstlerischem Interesse
steht der Mensch oder vielmehr die Darstellung des Menschen. Seien
es Porträts von Personen einer eng eingegrenzten gesellschaftlichen
Gruppe (Nonnen und Mönche) oder im Gegenteil solche von
Menschen, über deren soziale Herkunft der Betrachter eher im Unkla-
ren gelassen wird (Los Angeles Portraits), oder schließlich,
wie in den jüngsten Arbeiten, mit dem Computer bearbeitete Aus-
Schnitte aus videobildern von boxern in aktion (Knockouts) –
die ausschließliche Konzentration auf die Menschen (und damit den
Menschen an sich) ist die auffällige Gemeinsamkeit der Fotoserien, die
in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Freilich ist das nicht die
einzige Ubereinstimmung zwischen den ansonsten völlig eigenständi-
gen drei Werkgruppen, die in der Ausstellung im Nürnberger kunst-
bunker zu einer Präsentation zusammengefaßt wurden. Wie kohärent
sich das Werk Roland Fischers entwickelt hat, soll hier einmal an fünf
Begriffen (an die sich gewiß weitere anschließen lassen) vorgeführt
werden.

FRONTALITÄT

Von Pierre Bourdieu stammt der Satz: „Das Porträt ist die
Objektivierung des Selbstbildes“. Er bezieht sich damit auf das Verhält-
nis des Fotografierten zum Fotografiertwerden, das seinen unbewuß-
ten Ausdruck in der Pose findet, die der Porträtierte vor der Kamera
einnimmt. Diese Pose – ob selbstgewählt oder vom Fotografen arran-
giert – ist in aller Regel frontal, da unterscheiden sich Amateurfotogra-
fen von denen der Profis oder Künstler nur selten. Die Gründe dafür
sieht Bourdieu in verinnerlichten kulturellen Werten: „Die Ehre gebie-
tet, daß man der Kamera in derselben Weise gegenübertritt wie ei-
nem Menschen, den man achtet und dessen Achtung man erwartet:
von vorne, mit erhobenem Kopf und den Blick geradeaus gerichtet. (….)
Die abgebildete Person wendet sich an den Betrachter in einem Akt der
Reverenz, der konventionell geregelten Höflichkeit, und verlangt von
ihm, denselben Konventionen und denselben Normen zu folgen. Sie
bietet die Stirn und wünscht, von vorn und mit Abstand betrachtet zu
werden. Dieser Anspruch auf gegenseitige Ehrerbietung macht das
Wesen der Frontalität aus.“ (P. Bourdieu, Der „barbarische Geschmack“
(1965), zit. nach W. Kemp, Theorie der Fotografie III, München 1983, 184f.)
Wenn vielen Betrachtern an den Nonnen und Mönchen ebenso
wie an den Los Angeles Portraits zuallererst die Würde auffällt, mit der
die Fotografierten ins Objektiv blicken, so liegt das nicht zuletzt an der
Frontalität, mit der uns jene aus dem großformatigen Rahmen anblicken.
Gerade in der Gegenüberstellung mit den glattwangigen, geschminkten,
aber gleichwohl sehr persönlich und offen dreinblickenden Leuten in den
kalifornischen Swimmingpools zeigt sich, daß auch bei den Klosterschwestern
und -brüdern das Seelenvolle nicht allein in den von langjähriger asketischer
Zurückgezogenheit und spiritueller Versenkung gefurchten Gesichtszügen liegt.
Frontalität ist vielmehr eines der entscheidenden Merkmale in der Arbeit
Roland Fischers.

Es wurde oft gesagt, daß Roland Fischers Porträts einen de-
zenten Blick auf das Innerste der Menschen freigeben, was sicher rich-
tig ist. Aber unzweifelhaft sagen sie auch etwas über die
„Objektivierung des Selbstbildes“, zu dem eine frontale Aufnahme jeden
Porträtierten zwingt. Doch welches Selbstbild hat jemand, in dessen Leben
das Ich zugunsten einer Gemeinschaft, zugunsten einer leichteren Hin-
wendung zu Gott an den Rand gedrängt wurde? Dieselbe Frage läßt
sich auch bei den Los Angeles Portraits stellen: Wie sieht das
Selbstbild von Bewohnern einer Region aus, die für ihren Körperkult
und ihre narzißtischen Orgien bekannt ist?

Die Bilder der Nonnen und Mönche leben vom Kontrast von
Strenge und Menschlichkeit. Die unbunte, nur in schwarz und weiß ge-
haltene Ordenstracht läßt allein das Gesicht frei, was dessen beinahe
schmerzlich direkten Eindruck auf den Betrachter verstärkt. Die Ver-
meidung eines identifizierbaren Hintergrundes rückt die Dargestellten
aus jedwedem Kontext heraus – man könnte eine Parallele ziehen zum
‚Aus-der-Welt-sein“ der Nonnen und Mönche, die alle kontemplati-
ven, weltabgewandten Orden angehören. In der Mehrzahl sind es fran-
zösische Zisterzienser und Trappisten. Die manchmal gütig, gelassen,
heiter, aber auch forsch oder mißtrauisch wirkenden Mienen sowie die
jeweils unterschiedlichen Paßformen des Habits, der dazu noch in aller-
lei verschiedenen Ausführungen getragen wird, sie brechen das per se
starre Schema der Serie genauso auf, wie die von der klösterlichen Re-
gel beabsichtigte Einförmigkeit. Die Achtung des Betrachters gewin-
nen diese Porträtierten, weil in ihren Porträts das Rigide fehlt, das einer
persönlichen Unterordnung unter eine Gruppe normalerweise an-
haftet. Die Nonnen und Mönche bringen stattdessen „frontal“ ihre
starke, in sich ruhende Persönlichkeit zum Ausdruck.

In den Los Angeles Portraits ist die Frontalität scheinbar eine künstlichere,
inszeniertere, dem Sujet jedenfalls weniger inhärente. Die Personen
wurden nackt und in einem Swimming-pool stehend aufgenommen. Der
Wasserspiegel reicht ihnen bis zum Schlüsselbein, wodurch sich der
Büsten-Effekt einstellt. Im übrigen ist das Wasser nur als indifferentes
Blau wahrnehmbar. Das Haar ist zurückgenommen und das Gesicht
sorgfältig geschminkt. Auch hier ergibt sich wieder ein Kontrast zwischen
der Nacktheit der Personen und ihrem eher privaten, dem Freizeitvergnügen
zugedachten Aufenthaltsort einerseits, und dem für das Auftreten in der
Öffentlichkeit gestylten Kopf andererseits. Also schon wieder eine Art
Schnittstelle, diesmal zwischen Privatleben und Offentlichkeit, Sein und
Schein. Die Frontalität der Aufnahme läßt aus diesen Brüchen keine klaffenden
Abgründe werden, sondern versöhnt die Widersprüche in der Persönlichkeit
der Abgebildeten. Ich blicke Dich an, also nimm mich, wie ich bin.

Frontalität läßt sich selbst in den Knockouts entdecken, wenn auch ex negativo
und nicht mehr ganz im Sinne Bourdieus.
Roland Fischer hat für diese Serie Videofilme von Boxkämpfen verwen-
det, aus denen er exakt jene sekundenkurzen Einstellungen herausgefil-
tert hat, in denen einer der Kämpfer dem anderen den entscheiden-
den Schlag beibringt, den „Knockout“, der den Gegner zu Boden und in
ein (meist) kurzes Koma fallen läßt. Frontalität ist da natürlich im Thema
verborgen, ist ein Prinzip des regelgerechten Boxkampfs. Die Gegner müssen
sich mit Respekt und wechselseitiger Achtung gegenübertreten, wollen
sie denn eine Chance haben zu gewinnen. Schläge in den Rücken sind
verboten, sie bieten einander die (allerdings möglichst gut gedeckte) Stirn
und versuchen einander auf Abstand zu halten. Der Betrachter ist in dieser
Frontalkonstellation ein außenstehender Dritter, wobei allerdings zwischen
dem Zuschauer einer Sportveranstaltung und dem Betrachter eines Bildes,
auf dem eine sportliche Sequenz dargestellt ist, zu unterscheiden ist (wiewohl
sich Kunst und Leistungssport darin gleichen, daß sie zur Ausführung ein
Publikum brauchen).

Der Zuschauer eines Boxkampfes identifiziert sich in der Regel mit
einer der beiden Seiten, nimmt also an der frontalen Auseinanderset-
zung via Stellvertreter teil, wie überhaupt „das Außer-sich-sein-
Wollen des Zuschauers beim Sport einem Außer-sich-sein-Wollen der
Sportler korrespondiert, mit denen der Zuschauer hofft und leidet, die
er schmäht und verehrt”. (Martin Seel, Die Zelebration des Unvermögens.
Zur Ästhetik des Sports, in: Merkur 527, 1993, 96.) Der Betrachter
von Roland Fischers Knockouts dagegen ist unbeteiligt und sieht
genau den Moment, an dem die frontale Balance zugunsten des
einen oder anderen kippt.

ISOLATION

Bei der Beschreibung der Nonnen und Mönche ha-
be ich es bereits kurz angesprochen: Roland Fischers Fotografien le-
ben unter anderem von der Isolation ihrer Bildgegenstände. Zusam-
menhänge werden innerhalb von Serien geschaffen, nicht aber inner-
halb der Bilder selbst. So ist der Hintergrund in den Porträts der Or-
densleute undefinierbar grau, beige, braun oder weiß. Viel von ihm ist
ohnehin nicht zu sehen, denn die Köpfe der Fotografierten sind häufig
formatfüllend aufgenommen. Ein cloisonistischer Effekt geht schließlich
von den Kapuzen und Hauben der Ordenstracht aus, die das Gesicht
linienscharf einrahmen.

Da aus der besprochenen Frontalität eine gewisse Flächigkeit
der Bilder folgt, und Flächigkeit nichts anderes als ein Nebeneinander
von Flächen ist, ein Nebeneinander, das klare Trennlinien braucht, um
lesbar zu bleiben, ergeben sich automatisch separate Zonen innerhalb
dieser Bilder. Bei den Los Angeles Portraits heben sich die Silhouetten
der Frauen und Männer im Pool vom verschwommenen,
flach wirkenden Blau des Wassers scharfkantig ab. An der Schulterpar-
tie, wo die Körper mit dem Wasser in Berührung kommen, scheint
diese Trennung transparenter, das heißt weniger hart zu sein, schließ-
lich ist ja von dieser Stelle aus das Blau als Wasserfläche überhaupt
erst erschließbar. Doch in Wirklichkeit bildet gerade hier die Linie des
Wasserspiegels auf der Haut die am präzisesten definierte Einfassung
des fotografischen Motivs. Auch in den Gesichtern lassen sich solche
Linien finden: in den sorgsam gezogenen Brauen und Lidstrichen
der Frauen, in den Gesichtskonturen ganz allgemein, in den Haaransätzen
der nach hinten gekämmten Frisuren…

Mit den Knockouts wird endgültig klar, wie wichtig Ro-
land Fischer die Isolierung seiner Motive ist. Da er mit vorgefundenem
Material arbeitet, greift er auf Computertechnik zurück, um die Bilder
seinen Vorstellungen entsprechend aufzubereiten. Die vor Publikum
und mit einem Schiedsrichter an der Seite in einem Ring boxenden
Paare werden freigestellt und vor monochrome Hintergründe plaziert.
Die Farben sind meistens grell, aber homogen, bilden also einen ein-
heitlichen Fond, vor dem sich die eingefrorene Aktion der Boxer deut-
lich abhebt.

Die Isolation der Motive hat nicht immer die gleiche Bildwirkung. Während
bei den Nonnen und Mönchen so etwas wie stille Konzentration erreicht
wird und bei den Los Angeles Portraits dadurch das Skulpturale und die
klassisch austarierte Komposition hervortreten, denkt man bei den Knockouts
eher an computergenerierte Bilder, an Laborversuche mit speziell präparierten
Ausschnitten. In allen drei Serien ist das Verhältnis von Dargestelltem
und Hintergrund präzise abgewogen, sind Motiv und Kontext genau
geschieden.

INDIVIDUALITÄT

Aus dem formalen Stilmittel der Isolation ergeben sich zumal bei den
Porträtierten unweigerlich sozio-politische und sozio-kulturelle
Überlegungen. Stellt Roland Fischer Individuen dar oder isolierte
Mitglieder von gesellschaftlichen Gruppen? Treffen seine Bilder
allgemeingültige oder persönliche Aussagen über die Dargestellten?
Auf den ersten Blick scheint die Antwort bei den Nonnen und Mönche
eindeutig. Sie sind dezidiert als Angehörige einer bestimmten Gruppe zu
erkennen. Was über sie in den Fotografien gesagt wird, was sie in ihnen über
sich selbst aussagen, bezieht sich insbesondere auf diese, heutzutage relativ
marginale Gruppe, die katholischen Orden. Die mittlerweile beinahe exotische
Tracht wie auch der Titel der Serie sorgen dafür, daß der Status der Fotografierten
als Ordenszugehörige immer präsent bleibt, ja für die Arbeiten konstitutiv ist.

Doch die Gruppenzugehörigkeit signalisierende Ordenstracht
wird – wie alle Uniformen – deshalb getragen, um soziale Unterschiede
aufzuheben. Ergo sind solche vorhanden. Anders ausgedrückt: eine
Porträtserie mit uniform gekleideten Personen greift ebenso wie eine
mit unbekleideten, die Beziehung von Individualität und Anonymität
auf. Nonnen und Mönche, in ihrer auf frühmittelalterlichen Kleiderord-
nungen beruhenden Verweigerung, sich im Aussehen zu unterscheiden,
können womöglich ein interessantes visuelles Argument zu den Debat-
ten über soziale Differenz beisteuern.

Nicht anders die ohne jegliche Identifikationsmöglichkeit foto-
grafierten Männer und Frauen im Pool. Gehören sie ein und derselben
oder verschiedenen Schichten an? Nach Paul Fussels „amerikanischem
Statussystem“ gibt in erster Linie die Art sich zu kleiden Aufschluß über
die Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Von den Fotografierten
kennen wir aber nur den Aufenthaltsort in dem Moment, als die jeweilige
Aufnahme entstand: Los Angeles. Eine Stadt übrigens, die Fussel zufolge
für „finanziell honorige und wohlbestallte Angelsachsen“ weit unten rangiert:
„allerdings nicht weil es so häßlich und oberflächlich ist, sondern weil es so
lange den Spaniern gehört hat“. (Paul Fussel, Unterschiede lesen. Eine Reise
durch das amerikanische Statussystem, in Merkur 558/559, 1995, 757.)
Die glatte Durchschnittlichkeit der meisten Gesichter (niemand ist übermäßig
schön, niemand ausnehmend häßlich), das nivellierende Make-up und die
Nacktheit von Personen etwa gleichen Alters und mit ähnlicher Figur haben
einen ähnlichen Effekt wie die vereinheitlichenden Trachten der Nonnen und
Mönche: sie machen gleichzeitig das Individuum sowie sein Verlangen,
in einer Gruppe aufzugehen, bewußt. Es läßt sich freilich auch eine
Verbindung zum künstlerischen Prinzip der Serie ziehen. Versenkt man
sich in ein einzelnes Bild, kristallisieren sich die Details heraus, die
beim Anblick der Serie als ganzer verschwinden. Mit seiner Arbeitswei-
se vollzieht Roland Fischer reale Beziehungen zwischen Gruppen und
Individuen sozusagen nach.

Die Knockouts stehen übrigens zwischen Uniform und Nacktheit. Im Sport
sind die beteiligten Wettkämpfer der einheitlichen Ausgangsbedingungen
und der Unvoreingenommenheit der Kampfrichter halber uniform gekleidet
und müssen sich – wie die Ordensleute – strengen Regeln unterwerfen
(beim Boxen gelten die sogenannten „Queensberry Rules“ immerhin schon seit 1867).
Nur in den Farben dürfen sie sich wegen der (persönlichen oder nationalen)
Identifizierbarkeit unterscheiden. Beim Boxen sind die Teilnehmer bis
auf das Nötigste – Schuhe, Handschuhe, eine kurze Hose – nackt. Das
Bedürfnis, mit auffälligen Bademänteln oder einprägsamen Spitznamen
der Anonymität im Ring zu entgehen, bestätigt die Virulenz dieses
Phänomens. Bis zum heutigen Tage steht diese Sportart darüberhinaus
paradigmatisch für die Möglichkeit des Einzelnen, Klassenhürden zu
überwinden, den sozialen Aufstieg zu schaffen. Beim Boxen feiert das
Individuum seinen Sieg im wahrsten Sinne des Wortes aus eigener
Kraft, gemessen werden kann seine Leistung jedoch nur an einer
Gruppe von Gleichen, den Fliegen-, Bantam-, Welter-, Mittel-,
Halbschwer- oder Schwergewichtlern. Der Einzelne profiliert sich in
und dank seiner Gruppe.

ZEIT

Zeitfragen: 86 Sekunden hat Mike Tyson für sein Comeback gebraucht.
Zeitfragen: In den Knockouts gelingt es Roland Fischer dank
technischer Mittel den Sekundenbruchteil einer in der Zeit ablaufenden
Aktion im Standbild festzuhalten. Er macht auf diese Weise etwas sichtbar
(den Höhe- und zugleich Endpunkt eines Kampfes), das im Moment der
realen sportlichen Handlung nicht sichtbar sein konnte. Nicht nur fehlen
Aktiven wie Sportzuschauern die Voraussetzungen, Aktionen in Sekundenbruchteilen
voll wahrzunehmen, sie können in dem Moment, in dem der Schlag ausgeführt
wird, auch noch gar nicht wissen, daß es der kampfentscheidende sein wird.
Dieses Prinzip gilt übrigens nicht nur für das Boxen; Martin Seel sieht im
„Gesetz der verzögerten Kulmination“ ein wesentliches Prinzip der
Ästhetik des Sports überhaupt: „Sportliche Wettkämpfe steuern auf plötzliche
Höhepunkte zu, und zwar so, daß man nie genau weiß, ob der Höhepunkt
schon da war oder noch kommen wird. Dieser prekäre innere Zeitzustand
sportlicher Wettkämpfe determiniert ihren sichtbaren Ablauf von
Anfang bis Ende. Der Betrachter ist dabei und sieht zu, wie eine an sich
einfache Aufgabe zu einer Fülle komplexer Handlungen führt, die in
ihrer Fülle und Komplexität nicht beherrscht werden können. Denn
keiner der aktiv oder passiv Beteiligten kann wissen, wann und wie oft
es zur Kulmination des sportlichen Austrags kommen wird.“ (a.a.O.,
95) Auch hier gewährt also die Fotografie mit dem Anhalten der Zeit
einen Blick auf das normalerweise Unsichtbare.

An größere Zeiträume, ja an Zeitlosigkeit denkt dagegen si-
cher, wer sich mit den Porträtserien beschäftigt. Sowohl die Nonnen und
Mönche
wie die Los Angeles Portraits geben Anlaß, über Zeit im Verhältnis
zu einem Menschenleben, über das Alter nachzudenken – wenn auch aus
verschiedenen Blickwinkeln. Die Leute im Pool wirken seltsam alterslos,
wohl weil sie alle in etwa derselben Altersgruppe zwischen Dreißig und
Vierzig anzugehören scheinen. Möglicherweise stimmt dies gar nicht, dann
aber wäre zu fragen, warum ein solcher Eindruck entstehen kann. Die
Ordensleute haben die Lebensmitte größtenteils schon weit überschritten,
wenngleich es vereinzelt jüngere Gesichter ebenso gibt wie hochbetagte Greise.
Uber der frontalen Pose und Bewegungslosigkeit der Porträtierten liegt, so
gelöst sie im einzelnen scheinen, darüberhinaus noch der Geist der frühen
Fotografie, als langes Ausharren in einer bestimmten Haltung noch von der
Notwendigkeit langer Belichtungszeiten vorgegeben war. Darüberhinaus
haftet den Aufnahmen etwas Anachronistisches an. Nicht nur Mitglieder
eines katholischen Ordens am Ende des 20. Jahrhunderts, auch die Bewohner
von Los Angeles befinden sich außerhalb der Zeit, wenn sie so bloß im Wasser
stehen. In einem Wasser, das nicht fließt, sondern den Stillstand der Zeit (zumin-
dest für die jeweilige Aufnahme) versinnbildlicht.

ERSTE UND LETZTE DINGE

Sinnbilder: Neben den vielen formalen, soziologischen und struktiven
Lesarten sollte die allegorische, die im Werk von Roland Fischer auch
vorhanden ist, nicht vergessen werden. Einen Hinweis auf die Möglichkeit
einer solchen Interpretation geben die Arbeitstitel, die den Knockouts
zugeordnet sind. „Über den freien Willen“, „Über die Seele“, „Uber die
Körperlichkeit“ und so weiter. Dargestellt sind in dieser Serie existentielle
Augenblicke, eine Schwebephase zwischen Leben und Tod, Archetypen wie
der Kampf Mann gegen Mann oder Sieger und Besiegte. Die Deformation der
Körper, hervorgerufen von der Verformung, die entsteht, wenn ein Filmstill aus
einem schnellen Bewegungsablauf gezogen wird, erinnert manchmal an die
isolierten, verzerrten Figuren in den Bildern von Francis Bacon. Nur
selten sind Gesichter zu erkennen. Der im Bild sichtbare Moment wird
vorgegeben von einem Schlag, also von einem Akt der Gewalt, wie er
für die meisten von uns nur noch in den Medien zu erleben ist. Auch
davon handeln die Knockouts.

Die beiden Porträtserien behandeln die Thematik des Existentiellen wie eine
Klammer von den beiden Extremen her. Die nackten Menschen im Wasser
sprechen das Motiv der Geburt an. Die meerschaumgeborene Göttin, die Taufe
im Jordan, die Waschungen im Ganges, die Thermalkur, der Klima – und
Gewässerschutz – von den altesten Mythologien bis zur modernen Wissenschaft
reicht die Verbindung des Wassers mit dem Leben. Die ein auf das Jenseits
gerichtetes Leben führenden Nonnen und Mönche bilden das Gegengewicht zur
Geburtssymbolik. Der Tod, mit dem sich auseinanderzusetzen heute
immer mehr Menschen scheuen, der in den säkularen Gesellschaften
tabuisiert wird wie nie zuvor, der Tod ist in diesen Bildern anwesend,
gerade weil er selbst auf den vom hohen Alter gezeichneten Gesich-
tern keinerlei Schrecken hervorruft. Roland Fischers Fotografien sind
„Sinnbilder“ insofern, als sie Sinn nicht ausschließen, nicht auf der rein
abstrakten Ebene stehenbleiben.

MARIBEL KÖNIGER

Maribel Königer,
1964 in München geboren, lebt und arbeitet als Kunstkritikerin
und Journalistin in Paris.

veröffentlichet in: Roland Fischer, Kunstbunker Nürnberg 1995