Dr.Ute Bopp-Schumacher: Work in Progress
ROLAND FISCHER – EIN KONZEPTUELL UND IN SERIEN ARBEITENDER FOTOKÜNSTLER
Durch eine Serie zeigt der Fotograf, wie sein Blick funktioniert, nach welchen Kriterien er Dinge auswählt, welche Aspekte der Welt seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in welchem Licht er die Wirklichkeit betrachtet.1
Boris Groys
IM FOKUS: MENSCHEN UND ARCHITEKTUR
Der 1958 in Saarbrücken geborene Künstler Roland Fischer studierte nach dem Abitur zunächst einige Semester Mathematik, konzentrierte sich aber bald auf die Fotografie. Nach frühen Versuchen mit großformatigen Schwarz-Weiß-Porträts, die Fischer unter anderem 1981 im Goethe-Institut in New York ausstellen konnte,2 entstehen seit 1984 kontinuierlich, meist zeitlich nacheinander, konzeptuelle, großformatige Werkserien.
Lange Zeit stand das menschliche Gesicht im Zentrum von Fischers Serien: Nonnen und Mönche, Los Angeles Portraits, Chinese Pool Portraits, und den Kollektivportraits. Letztere setzen sich wiederum aus vielen Einzelporträts einer vom Künstler festgelegten Gruppe zusammen. Der zweite Werkkomplex von Roland Fischer thematisiert Architektur. Hierzu zählen die Serien Kathedralen, Alhambra, New Architectures, Fassaden und Transhistorical Places.
PLANUNG, UMSETZUNG UND PRÄSENTATION DER VERSCHIEDENEN SERIEN
Seine künstlerischen Serien kreiert Fischer über eine längere Zeit ausgehend von verschiedenen Ideen und Überlegungen. Alle Reihen beruhen auf einer strukturellen Vorgehensweise, die Fischer nach umfangreichen, akribischen Recherchen als Konzept entwickelt. Jede Werkserie wird dann mit realen Bildern stringent und technisch perfekt mit allen zur Verfügung stehenden medialen Möglichkeiten umgesetzt. Die einzelnen Fotoproduktionen plant der Künstler ähnlich wie ein Regisseur. Hinzu kommt die Vorbereitung der für die Aufnahmen meist erforderlichen Reisen. Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt auch die digitale Nachbearbeitung der für eine Serie ausgewählten Werke viel Zeit in Anspruch. Vor der Freigabe einer Arbeit muss jedes Detail den Vorstellungen und der Bildidee des Künstlers entsprechen. Auch bei der Planung der Bitburger Ausstellung stimmt Roland Fischer sich für die Installation der Werke eng mit der Kuratorin ab.
NONNEN UND MÖNCHE
Roland Fischers erste konzeptuelle Serie Nonnen und Mönche entstand Mitte der 1980er Jahre in einem Zeitraum von drei Jahren. Fischer fotografierte die Ordensfrauen und -männer in nahezu sämtlichen französischen Klöstern der kontemplativen Orden der Zisterzienser und Trappisten.3 Der damals in Paris lebende Künstler porträtierte die zurückgezogen in Klausur lebenden Klosterbrüder und -schwestern als bildfüllende Büsten und führte sie als Großaufnahmen im Hochformat aus: 170 Zentimeter hoch und 120 Zentimeter breit. Einige Porträts zeigen die Ordensmitglieder auch als Halbfiguren in ihren den Körper verhüllenden, schlichten Kutten. Die Namen der Abgelichteten erfahren wir nicht.
Den Fokus der frontal abgelichteten Nonnen und Mönche legte Fischer auf deren Gesichter. Diese werden von den dunklen Hauben der Ordenstrachten eingerahmt. Einige tragen darüber noch die für den Kirchgang übergeworfenen weißen Kukullen. Haare sind so gut wie nie zu sehen. Mimik gibt es allenfalls ansatzweise. Betrachter nehmen die ruhig und ernst abgelichteten Konterfeis der in hermetischen Gemeinschaften lebenden Personengruppe wie in einem Vergrößerungsspiegel wahr: die Form der Gesichter, der Münder, der Nasen, die Haut, Falten und durchscheinenden Bartstoppeln laden zur genauen Begutachtung ein. Die frontal auf den Fotografen beziehungsweise die Kamera ausgerichteten Blicke – klar, wach, streng, mit nur halb geöffneten Lidern, andeutungsweise leicht lächelnd, verstohlen, ausdruckslos nach innen gerichtet, undurchdringlich – vermitteln eine ‚Idee‘ von den Persönlichkeiten der gestochen scharf und ungeschönt Abgelichteten.
Trotz Prägung der Physiognomien durch Alter, Lebensweise und Charakter bleibt es angesichts der hochglänzenden glatten Oberfläche der Bilder aber nur bei vagen Vorstellungen von den Wesensarten der fotografierten Ordensmitglieder. Vor allem ‚gespeist‘ durch eigene (Seh-) Erfahrungen und Imagination. Bringen doch erst ein echter Blick und die Stimme ein Gesicht zum Leben4 und vermitteln so etwas mehr vom Wesen einer Person. Über die Beweggründe der Abgelichteten, ein Leben in weltlicher Abgeschiedenheit, in strenger Klausur, zu führen, können wir angesichts der fotografischen Bildnisse nur spekulieren.
In der Bitburger Auswahl der Ordensleute bildet die Ansicht eines älteren, eindringlich in die Kamera und gleichzeitig in die Ferne schauenden Mönches mit einem alten Totenkopf in der linken Hand eine Ausnahme: Es handelt sich um ein großes Querformat und zeigt diesen Mönch in der klassischen Memento Mori-Pose (5), die ausdrückt: „Sei Dir der Sterblichkeit bewusst.“ Mit diesem Bild greift Roland Fischer die Dialektik der visuellen Darstellung der Porträts, die sich in dem Kon- trast zwischen den Bildflächen des Ordensgewandes und dem Gesicht als Teil des menschlichen Körpers ausdrückt, mit dem denkbar größten Gegensatz auf: dem zwischen Sein und Nichtsein.
1989 wurden alle von Roland Fischers seinerzeit realisierten Aufnahmen der Nonnen und Mönche im Musée d‘Art Moderne de la Ville Paris in einer großen Einzelausstellung gezeigt und in einem begleitenden Katalog dokumentiert. In der Neuen Galerie im Haus Beda werden im ersten Hauptraum außer dem ‚Mönch mit dem Totenkopf‘ fünf weitere Porträts von Zisterzienser-Mönchen auf roten Wänden präsentiert. Einer der Mönche ist dabei erstmals öffentlich zu sehen: Die damalige Aufnahme war situationsbedingt mit kleinen optischen Fehlern behaftet, die Fischer erst jetzt im Nachhinein digital korrigierte.
LOS ANGELES PORTRAITS
Bei den Los Angeles Portraits handelt es sich um Großaufnahmen von Frauenbüsten, die bis zu den Schultern regungslos im Wasser stehen. Durch ihre aufrechte Haltung haben die Porträtierten eine geradezu majestätische Ausstrahlung. Den Hintergrund bildet hellblaues, fast schwarzes, seltener azurblaues Wasser. Die monochrome Farbgebung des Wassers erinnert an eine Art Firmament, das die Porträtierten als plane Fläche einrahmt. Einzig an der Unterkante der Bilder, an der das Wasser mit der Haut der Modelle unter den Schultern in Berührung kommt, ist dessen Transparenz erkennbar. Die Abgelichteten blicken ohne Mimik und mit offenen Augen direkt in die Kamera. Analog zu den Aufnahmen der Nonnen und Mönche erfahren wir von den kalifornischen Fotomodellen keine Namen. Als Bildtitel vergibt der Künstler wiederum Nummern. Und doch handelt es sich um Persönlichkeiten, die die Phantasie der Betrachter ‚beflügeln‘ und in die sie allerhand hineininterpretieren.
Wie im Titel ersichtlich, entstand die Serie in Los Angeles, weil Roland Fischer in Kalifornien – anders als in Deutschland – ein solch aufwendiges Foto-Shooting bei gleichbleibend sonnigem Licht und wolkenlosem Himmel kontinuierlich durchführen konnte. In den Bildern selbst fehlt dagegen jeder lokale Kontext. Dieses zwischen 1989 und 1993 realisierte Projekt wurde durchgehend rein analog realisiert, also ohne digitale Nachbearbeitung. Bei den Aufnahmen verlangte Fischer von seinen Modellen Stehvermögen: Sie mussten so lange stillhalten, bis jedes Detail, insbesondere aber Lichtverhältnisse, Gesichtsausdruck und Körperhaltung perfekt stimmten. Bei diesen strengen Vorgaben konnten bei einem so aufwendigen Vorhaben einige Aufnahmen wegen kleiner Bildfehler, die sich damals im Nachhinein nicht manuell korrigieren ließen, nicht verwendet werden. Dank nachträglicher digitaler Bearbeitung werden jetzt in der Neuen Galerie im Haus Beda zwei bisher nicht ausgestellte Los Angeles Portraits zum ersten Mal gezeigt. Zusätzlich zu dieser ‚Premiere‘ werden drei weitere Bilder der Serie im großen Hauptraum präsentiert.
CHINESE POOL PORTRAITS
2007 kam es mit chinesischen Frauen zu einer Fortsetzung der Pool Portraits. Fischer, der damals in China seinen Wohnsitz hatte, richtete bei der ‚Neuauflage‘ der Pool-Bilder den Fokus auf Repräsentantinnen der modernen chinesischen Gesellschaft. Die Serie der Chinese Pool Portraits realisierte Fischer dann in Filmstudios in Peking und Shanghai. Dort ließ er jeweils Swimmingpools errichten, die mit Hilfe von Reflektoren und Filmstrahlern so beleuchtet wurden, dass die Lichtverhältnisse in etwa mit dem weichen kalifornischen Tageslicht vergleichbar waren.6 Anders als bei den amerikanischen Porträts benennt Fischer die chinesischen Pool Portraits mit den Namen der abgelichteten Frauen. Im Durchschnitt wirken diese jünger als die amerikanischen Darstellerinnen. Die Größe der Bilder ist jedoch identisch mit den in Los Angeles entstandenen Werken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fotografiert der Künstler die chinesischen Modelle im Profil: mal von rechts, mal von links, aber ebenso statuarisch und bewegungslos wie die amerikanischen Vorbilder. Da die asiatischen Frauen den Blick nicht auf ihre Betrachter richten, ist es für letztere noch schwieriger, einen Zugang zu deren hinter einem makellosen Äußeren versteckten Persönlichkeiten zu finden. Den Hintergrund der Porträts bildet wiederum das Wasser der Pools. Dieser zwischen einem dunkleren Türkis und verschiedenen Blautönen changierende, monochrome Farbraum evoziert, ähnlich wie bei den in Los Angeles realisierten Aufnahmen, Bilder des Universums. In Bitburg wird aus dieser Reihe das Bildnis Jia Yi#3516 stark vergrößert als Wandinstallation im Foyer präsentiert.
KOLLEKTIVPORTRÄTS
Ebenfalls in China entstand 1998 Roland Fischers erstes Kollektivporträt. Ein vier Meter breites Gruppenbild, das 450 passfotoartige Porträts von chinesischen Student*innen zeigt. Bei diesem – wie bei allen nachfolgenden Kollektivporträts – ordnet der Künstler frontal aufgenommene Einzelaufnahmen eines Personenkreises, die einer bestimmten Berufsgruppe angehören oder einer ähnlichen Tätigkeit nachgehen, zu großen Tableaus, in Reih und Glied, neben- und untereinander an. Dabei steht unter jedem Porträt in den rasterartigen Anordnungen der Name der jeweils abgelichteten Person. So löst sich bei allen so komponierten Bildern das kollektive Bildgeschehen, das von Weitem einem abstrakten Muster gleicht, in der Nahsicht in Individuen auf. Die anonyme Masse entpuppt sich als eine Ansammlung individueller Porträts, die jedoch nur durch Fokussierung als einzelne Bilder wahrgenommen werden. Damit einher geht die Vernachlässigung der Gruppe, die dann unscharf erscheint. Umgekehrt führt die Begutachtung des Kollektivs zur verschwimmenden Wahrnehmung der einzelnen Gesichter.7
In ähnlicher Manier gestaltete Fischer auch die Kollektivporträts von chinesischen Bauern (1998), Stahlarbeitern (2000) und Soldaten der Volksbefreiungsarmee (2002). Er verbildlichte hie mit die vier wichtigsten Gruppierungen der kommunistischen Gesellschaft. So thematisiert er in diesen Bildern einerseits Individualität und andererseits ein „soziologisches Gefüge“ vor dem Hintergrund der chinesischen Massengesellschaft.8
Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und einer vom Künstler bestimmten Gruppe prägt auch das 2003 realisierte Kollektivporträt von 1050 Pilgern des Jakobswegs. Fischer porträtiert die Pilger am Ziel ihrer Reise: bei der Ankunft vor der Kathedrale von Santiago de Compostela, als passfotoartige Bildnisse, die er dann wie zuvor beschrieben in einem Raster anordnet. Das die abgebildeten Personen verbindende Element ist das Ankommen am bedeutenden Wallfahrtsort. Das Kollektivporträt vereint die Bildnisse von Frauen und Männern jeden Alters, aus verschiedenen Ländern und Schichten. Unklar bleibt, ob und wie weit die Abgelichteten den Jakobsweg, aus welchen Gründen auch immer, gegangen sind. Weitere im Laufe der Jahre entstandene Kollektivporträts sind: Transit Passengers Airport Frankfurt (2000), Employees Ferrovial (2002), Israeli Collective Portrait (2015), Refugees (2016) und African Collective Portrait (2017).
In der Bitburger Ausstellung wird das Kollektivporträt der Pilger als raumhohe, zehn Meter breite Fotowand präsentiert. Die gegenüberliegende, noch etwas längere Wand gestaltete Fischer als TEXT-BILD-Komposition mit geometrischen und amorphen Formen und teilweise einander überlappenden Farbflächen. In dieser Installation finden sich zahlreiche Textfragmente, Exzerpte und Zitate, die sich auf Form, Sichtbarkeit oder das Fremde beziehen. Weiterhin enthält diese Art
‚Pinnwand‘ verschiedene Äußerungen des Künstlers über seine Arbeiten sowie einen Textauszug des Philosophen Bernhard Waldenfels zur erkenntnistheoretischen Bedeutung eines Kollektivporträts. Die dynamische Inszenierung der Wandfläche erinnert auch an avantgardistische Werbegestaltungen des Bauhauses. Die verschieden groß geschriebenen Zitate sind als Inspirationsquellen sowohl für die Betrachtung des Pilgerporträts wie der gesamten Roland Fischer-Ausstellung zu verstehen. Das geradezu poetische Sprach-Bild ist ein temporäres Kunstwerk, das viel über die ‚Welten‘ und Themen verrät, mit denen sich der Künstler Roland Fischer im Rahmen seiner Arbeit beschäftigt.
FASSADEN
Die Außenseiten großer Gebäudekomplexe, die von Architekten und Designern entworfenen äußeren Hüllen moderner Gebäude, nimmt Fischer seit Ende der 1990er Jahren in den Fokus. Weltweit fotografiert er die Fassaden großer Gebäudekomplexe, insbesondere von Banken, Unternehmenssitzen, Warenhäusern und Museen. In Metropolen wie München, Paris, Madrid, New York, Los Angeles, Washington, Chicago, Dallas, Boston, Montreal, Toronto, Sao-Paulo, Brasilia, Mexiko-Stadt, Peking, Shanghai, Hongkong, Singapur, Melbourne, Luxembourg, …. wird der Künstler bei der Erweiterung seiner Werkserie fündig. Die von ihren räumlichen Kontexten komplett befreiten Teilausschnitte der Fronten bestechen durch ihre Gestaltung mit edlen, oft spiegelnden Materialien, Farbe und markanter einfacher geometrischer Grundformen: Linien, Rechtecke, Quadrate, Kreise sowie Gitterformationen und kristalline Strukturen. Die von Fischer ausgewählten „Gesichter des Urbanen“ haben keinen Bezug zu den regionalen Besonderheiten, sondern gleichen sich in ihrem Ausdruck unabhängig vom Herkunftsland.9 Die von internationalen Architekten kreierten Designs der Fassaden für global tätige Auftraggeber beeindrucken durch ihre polyglotte Ästhetik. Gleichzeitig erinnern die visuell einprägsamen Gestaltungen auch an verschiedene kunstgeschichtliche Stile wie: die konstruktivistische Kunst Kasimir Malewitschs, die konkrete Kunst Theo van Doesburgs, Max Bills oder Anton Stankowskis sowie die niederländische De Stijl-Bewegung Piet Mondrians oder die in den 1960er Jahren aufgekommene OP-Art. Durch Fischers künstlerische Isolierungen wird gerade dieser Aspekt an den Extrakten der Fassaden besonders deutlich.
Da sich in Roland Fischers Serie Fassaden weder Hinweise auf die Gesamtansichten der Gebäude noch Logogramme finden, geben einzig die Bildtitel Hinweise, um welche Häuser und Institutionen in welchen Städten es sich handelt. Trotz dieser von Fischer bewusst vorgenommenen visuellen Dekontextualisierung verraten sich einzelne Fassadenausschnitte anhand ihres ausgefallenen Designs, wie die Fassade des Museums Brandhorst in München mit ihren vertikal angebrachten, farbigen Keramikflächen, die golden schimmernde, profilierte Messing-Fassade des Erweiterungsbaus des Münchner Lenbachhauses oder das silbrig glänzende Stabmuster des ehemaligen World Trade Centers in New York.
So wie die Porträts von Fischer wenig Narratives über die Seelenzustände und Persönlichkeiten der abgelichteten Personen verraten, so zeigen auch die von ihm fotografierten Fassadenausschnitte die ‚Außenhaut‘ der besonderen Gebäude ohne Hinweis darauf, was sich im Inneren der Häuser abspielt.
KATHEDRALEN UND ALHAMBRA
An der Serie Kathedralen arbeitet Fischer seit 1996: zunächst in Frankreich und Spanien, später auch in Deutschland und ganz Europa. Die Architektur der ausgewählten Gotteshäuser studiert der Künstler im Vorhinein eingehend. Vor Ort erkundet er außen wie innen verschiedene Blickwinkel der imposanten Gebäude, wie des Kölner Doms oder der Kathedrale von Palma de Mallorca. Bei den im Nachgang digital bearbeiteten Fotoarbeiten überblendet er die Außenansichten der Kathedralen mit Ausschnitten ihrer Innenräume. Mittels dieser Überblendungen, die vor allem durch die Transparenz des Mediums Fotografie möglich sind, kreiert der Künstler verdichtete Versionen der einst in mehreren Jahrhunderten entstandenen Gotteshäuser. Fischers finale Bilder, die eigentlich fotografische ‚Collagen‘ sind, vermitteln die Aura und Lichtmystik der imposanten Bauwerke als ikonenartiges Konzentrat: „Mir gefielen die beiden Aggregatzustände jedes Raumes in Bezug auf den Menschen, das Innen und Außen. Daraus entwickelte ich die Idee der Überlagerung der Außenfront eines Gebäudes mit seinem Inneren. So kam es zu den Kathedralenbildern.“10 Die großformatigen Werke mit den vielen, einander überlappenden filigranen Strukturen und Ornamenten, erfordern ein aktives Sehen der Betrachter: sowohl aus der Nähe wie aus der Distanz, um die verschiedenen, simultan dargebotenen Bildebenen optisch und inhaltlich zu erfassen und zu entschlüsseln.
Bei den Fotografien der Palastanlage der Alhambra in Granada arbeitete Fischer ebenfalls mit Überblendungen. Teilweise griff er hierbei sogar auf Originalaufnahmen der Bauten aus dem 19. Jahrhundert zurück, die er dann mit seinen eigenen Fotografien kombinierte: „Fischer baut eine Simultaneität des Sehens auf, die nur durch einen künstlerischen Eingriff bewirkt werden kann, vergleichbar der Verwendung der multiplen Perspektive bei den Kubisten. Diese Simultaneität führt fast automatisch zum Verlust des Raumes in der Darstellung des fotografierten Objekts. Dadurch zeigt Fischer das Ganze, das Ungestörte, die direkte Ansicht. Bei den Kathedralen führen die Überlagerungen zu architektonischen Übereinstimmungen, oft auch zu Kontrasten. Eine Tür zu einem neuen Sehen wird aufgestoßen, weil das „davor“ ebenso erfahrbar wird wie das „dahinter“. /…/ Der Betrachter wird in eine Formensprache der Vergangenheit geführt, durch die er Vielfalt, Strenge, Monochromie, Übereinstimmung und Gegensätze erfährt.“11
NEW ARCHITECTURES UND TRANSHISTORICAL PLACES
In der Serie New Architectures kreiert Roland Fischer seit 2005 verdichtete Versionen von modernen, im 20. Jahrhundert oder später entstandenen ikonischen Bauwerken. Die Entwürfe stammen von namhaften Architekten wie Le Corbusier, Frank Lloyd Wright, Frank Gehry, Yoshio Taniguchi. Viele der Bauten schrieben Architekturgeschichte. Wie zum Beispiel der von Mies van der Rohe 1928/29 für die Weltausstellung in Barcelona konzipierte Deutsche Pavillon. Dieser sollte seinerzeit ein Musterbeispiel eines Stahlskelettbaus sein, mit einer grundlegend neuen, fließenden Raumerfahrung von Innen und Außen dank vieler gläserner Außenwände und nur weniger tragender, marmorverkleideter, innen liegender Wände und einiger metallener Stützen. Da der originale Pavillon 1930 abgerissen wurde, gab es von diesem legendären Bauwerk jahrzehntelang nur fotografische Abbilder und Berichte von Zeitgenossen. 1986 wurde das Gebäude an der ursprünglichen Stelle rekonstruiert und ist seither wieder räumlich zu erleben.12 In Fischers Fotoarbeit des wieder aufgebauten Pavillons sehen wir nur einen kleinen Ausschnitt des Gebäudes: einen Blick in den Innenraum. Genauer: ein Teilstück eines zugezogenen roten Vorhangs, wobei am unteren Bildrand ein kleiner Streifen des berühmten Travertin-Bodens zu sehen ist, teils von der Sonne beschienen, teils im Schatten liegend. Auf dem in regelmäßigen Falten fallenden, dunkelroten Vorhang sind partienweise schattenartige, an Gaze erinnernde, weißliche Gebäudefragmente zu erkennen. Der Pavillon als solches ist nicht zu sehen. Nur ein architekturhistorisch geschulter Betrachter erkennt anhand der zuvor genannten Details das Design von Mies van der Rohe. Der Titel Pavillon ist insofern ein wichtiger Hinweis für die Entschlüsselung der künstlerischen Interpretation.
Bei der New Architectures-Serie montiert Fischer am Computer verschiedene Aufnahmen der Bauwerke zu ausdrucksstarken Konstrukten. Dabei erlaubt sich der Künstler eine gewisse Freiheit bei den digitalen Montagen. “Fischers Architekturphotographie – und das zeigen die New Architectures ganz besonders deutlich – schließt an die Tradition der avantgardistischen Photographie der klassischen Moderne an (etwa von Moholy-Nagy oder Rodtschenko). Diese kündigt den mi-etischen Realismus der zunächst ja als objektiv begriffenen Photographie auf und setzt mit den Mitteln der modernen Malerei einen höheren, zuweilen auch als magisch bezeichneten Realismus an seine Stelle. Zu diesen Mitteln, die Sie etwa in der Malerei des Kubismus, Konstruktivismus oder Expressionismus finden, gehören z.B. die Auflösung der Perspektive, die Mehransichtigkeit des Gegenstandes – dass Sie also ein Ding zugleich von verschiedenen Seiten oder aus verschiedenen Blickwinkeln sehen – die Fragmentierung oder die Montage, die Verfremdung und andere mehr.“13
Aus der Werkgruppe der New Architectures werden in der Bitburger Ausstellung eine Reihe großer Arbeiten gezeigt: darunter das imposante Designmuseum Shalom Holon von Ron Arad in Tel Aviv, das Pekinger Olympiastadion Bird‘s Nest der Schweizer Architekten Herzog und de Meuron und das Casa de Arte in Mirando do Corvo der Architektengruppe FAT.
Einen noch autonomeren Bildcharakter als die Reihe New Architectures hat Roland Fischers jüngste, seit 2018 entstehende Serie Transhistorical Places. Bei diesen Fotoarbeiten stehen geometrische Figuren wie farbige Kreise, Kugeln, rechteckige Elemente und andere Formationen gleichwertig neben den fotografierten Teilansichten von brutalistischen Gebäuden. Letztere überlappen teilweise die Architektur, wodurch völlig neue Raumgebilde entstehen.14
Eine Gemeinsamkeit aller moderne und zeitgenössische Architektur thematisierenden Serien von Roland Fischer ist, dass es ihm nie um fotografische Abbilder der Bauten geht, sondern um „Bildschöpfungen mit autonomem Charakter“. Diese spannenden Bildfindungen entstehen aus dem Zusammenfügen von realen und fiktiven Teilen und sind somit eine Art Zwitter zwischen digitaler ‚Malerei‘ und Fotografie.15
BILD, SCHRIFT UND SPRACHE
Fischers Interesse für Sprache und Schrift zeigt sich neben der großen TEXT-BILD-Komposition auch an weiteren Werken in der Bitburger Ausstellung. Zunächst einmal generell bei der Benennung sämtlicher Protagonisten auf den verschiedenen Kollektivporträts mit ihren Eigennamen: wie beispielsweise auch auf dem Israeli Collective Portrait. Das Gruppenbild mit Konterfeis von israelischen Studenten wird in der vorderen Nische im Hauptraum auf einer schmalen roten Wand präsentiert. Die weiteren Wände in dem kleinen Kabinett gestaltete Fischer mit einer von ihm entworfenen ‚Tapete‘, auf die Statements von israelischen Passanten auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv appliziert sind. Die Zitate entnahm der Künstler seinem 2015 entstandenen Film „A Normal Day on Rothschild Boulevard“, der ebenfalls in dem kleinen Raum auf einem Monitor läuft. Die multimediale Inszenierung vermittelt synästhetisch einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der von Fischer geschaffenen Gruppierungen. In einigen der persönlichen Darlegungen kommen auch kritische Stimmen gegenüber der deutschen Vergangenheit oder zum israelisch-palästinensischen Konflikt zum Ausdruck.
Das Atrium des Haus Beda, in welchem zahlreiche Skulpturen aus verschiedensten Epochen stehen, darunter einige Gipsabgüsse, animierte Roland Fischer zu einem auf Schrift basierenden Entwurf. Am Beginn der oberen Wände platziert Fischer die von ihm kreierte Text-Collage Vier Frauen mit Sentenzen der klassischen Autoren Sophokles, Euripides und Hölderlin als umlaufendes Schriftband. Die kurzen einprägsamen Formulierungen, die man in der Eingangshalle förmlich zu hören vermeint, wirken wie eine Verstärkung des dort versammelten plastischen Gehalts: Eine auratische Einstimmung zur Schärfung der Sinne für den Besuch des Hauses.
KUNSTGESCHICHTLICHE VERANKERUNG DER WERKE FISCHERS IN DER JÜNGEREN GESCHICHTE DER FOTOGRAFIE
Mit seinen ersten großen Porträts und den großformatigen konzeptuellen Serien zählte Fischer seit 1980, also von Beginn seiner künstlerischen Karriere an, zur fotografischen Avantgarde. Mit den perfekt hergestellten großen Formaten untermauert der Künstler den Anspruch, seine Arbeiten auch in Museen auszustellen.16 Parallel zu Fischer entdeckten auch andere Fotokünstler, insbesondere die Künstler der Becher-Schule wie Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth, das große Format als ein Mittel, um im Wettstreit mit malenden Künstlern, die zeitgleich auch immer größere Bilder malten, ‚einen Stich zu machen‘. Das Schlagwort im „Wettstreit der Gattungen“ war „Size does matter“.17 In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass sich zu dieser Zeit die technischen Möglichkeiten bei der Entwicklung von Fotografien ebenfalls stark erweiterten.18
Die sachliche, hoch präzise Ablichtung der Menschen in Roland Fischers frühen Serien Nonnen und Mönche und Los Angeles Pool Portraits wurde in der Literatur des Öfteren mit den Werken des zur ersten Generation der Becher-Schüler zählenden Fotokünstlers Thomas Ruff verglichen. Nahezu zeitgleich arbeiteten Fischer und Ruff an großen Porträtserien, die Gesichter ernst, ungeschönt, authentisch und in großen Formaten ins Zentrum stellen. Fischer wie auch parallel die Becher-Schüler einte damals, dass sie „… /… / in den 1980er-Jahren, ihre Bilder in monumentalen Abmessungen und in der gesamten Farbpalette /… / präsentieren. Breite, weiße Ränder sorgten für eine weitere Vergrößerung des Formats der Abzüge /… / Die erweiterte Größe und die Hinzufügung von Farbe hatten direkten Einfluss auf die Beziehung des Betrachters zu den Bildern. Statt der intimen Nähe /… / verlangten sie dem Betrachter eine neue Art der Aufmerksamkeit ab, indem er jetzt auf riesige Farbfotografien an den Wänden blickte, als handle es sich um Gemälde.“19
Fischers konsequent serielles Arbeiten, das eine inhaltliche Dichte impliziert, steht in der Tradition zahlreicher Künstler. Allen voran auch die bereits mehrfach erwähnten Fotografen Bernd und Hilla Becher, die seit den 1950er Jahren anonyme Zweckbauten wie Fabrikhallen, Hochöfen, etc. in einer sachlich nüchternen Bildsprache systematisch, frontal und schwarz-weiß ablichteten. Diese wiederum knüpften ebenfalls an seriell vorgehende Künstler an, wie die neusachlichen Fotografen Albert Renger-Patzsch und August Sander.20
Aufgrund neuer Techniken und neuer Strömungen befreite die fotografisch arbeitende Generation von Roland Fischer und den Becher-Schülern „die Fotografie aus dem engen Gerüst der Wirklichkeitsabbildung“, was formal und inhaltlich eine viel größere Breite und Komplexität des fotografischen Mediums einleitete. Zum Teil werden Bildgegenstände heute so detailreich abgebildet, dass das menschliche Auge diese kaum erfassen kann oder sie werden so unscharf, dass sich die fotografischen Sujets in Malerei aufzulösen beginnen.21 Teilweise werden Fotografien auch komplett aus Internetdaten generiert und künstlerisch verfremdet. Oder fotografische Realitätsfragmente werden isoliert und mit anderen Bildelementen am Bildschirm zu neuen, ausdrucksstarken, fotografischen Bildern zusammengesetzt. Roland Fischer hat diese jüngeren Transformationen der Fotografie miterlebt und gestaltet diese bis heute mit beindruckenden, im Gedächtnis haftenden Bildern weiter mit.
Dr.Ute Bopp Schumacher ist eine deutsche Kuratorin und Autorin
veröffentlicht in: Roland Fischer „In ein Bild geschrieben“, Kerber Verlag, Bielefeld 2022
1 • Boris Groys, Das Versprechen der Fotografie, in: Ausstellungskatalog Das Versprechen der Fotografie. Die Sammlung der DG Bank, Luminata Sabau (Hrsg.), Prestel Verlag, 1998, S. 29. 2 • Die 190 × 130 Zentimeter großen, schwarz-weißen Porträts wurden noch von Hand in der Dunkelkammer vergrößert und entwickelt. 3 • Aus bildhaften Erwägungen heraus entschied sich der Künstler für Trappisten und Zisterzienser: Beide Orden tragen ein schwarz-weißes Ordenshabit und führen ein kontemplatives Leben in Klausur. Diese Aspekte kamen dem konzeptuellen Charakter von
Roland Fischers Serie zugute. 4 • Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München, 2. Auflage Verlag C. H. Beck, 2013, vgl. S. 7. 5 • lateinisch: Gedenke des Todes. 6 • Roland Fischer Chinese Pool Portraits, in: Ausstellungskatalog Roland Fischer New Photography 1984 – 2012, Saarland Museum Moderne Galerie, Meinrad Maria Grewenig (Hrsg.), Verlag das Wunderhorn, Heidelberg, vgl. S. 56. 7 • vgl. Björn Vedder, Eröffnungsrede zur Ausstellung Roland Fischer im Kunstverein Rosenheim am 24.9.2016, abgedruckt als Text auf der Website www.rolandfischer.com, Stand Februar 2022. 8 • Joachim Kaak, Von der Unmöglichkeit der Realität – statt eines Vorwortes ein Paradoxon, in: Ausstellungskatalog Roland Fischer, Pinakothek der Moderne, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München (Hrsg.), Wienand Verlag, Köln 2003, vgl. S. 12 f. 9 • Petra Giloy-Hirtz, Ein Vokabularium urbaner Oberflächen, in: Petra Giloy-Hirtz, Façades Photography, Hirmer Verlag, München, 2. Auflage 2015, vgl. S. 189.10• Roland Fischer im Gespräch mit Meinhard Maria Grewenig, in: „Ich denke nicht nur an das Einzelbild, sondern immer auch an die Wirkung der Serie im Raum“, in: Ausstellungskatalog Roland Fischer New Photography 1984 – 2012, a.a.O., S. 28. 11 • Dieter Ronte, Roland Fischer – Fotografie, Architektur, Abstraktion, in: Ausstellungskatalog Roland Fischer Architectures, Museo Casal Solleric (Hrsg.), Palma de Mallorca 2014, S. 198. 12 • Claire Zimmermann, Deutscher Pavillon, Weltausstellung Barcelona, 1928/29, in: Ausstellungskatalog Altes Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, Mies in Berlin. Ludwig Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907 – 1938, Terence Riley, Barry Bergdoll (Hrsg.), Prestel Verlag, München London New York, 2001, vgl. S. 236 f.13•Björn Vedder, Eröffnungsrede zur Ausstellung Roland Fischer im Kunstverein Rosenheim, a.a.O., siehe Anmerkung 8. 14 • Weitere Aspekte zu diesen visuellen Kompositionen erläutert Björn Vedder in seinem Beitrag über Transhistorical Places. 15 • Thomas Weski, Gegen Kratzen und Kritzeln auf der Platte, in: Ausstellungskatalog Sprengel Museum Hannover u. Städelsches Kunstinstitut Frankfurt am Main, how you look at it. Fotografien des 20. Jahrhunderts, Thomas Weski, Heinz Liesbrock (Hrsg.), Oktagon Verlag, Köln 2000, vgl. S. 37. 16 • Roland Augustin, Roland Fischers fotografisches Werk und der Strukturalismus, in: Ausstellungskatalog Roland Fischer New Photography 1984 – 2012, a.a.O., vgl. S. 20. 17 • Martin Engler, Die Becher-Schule. Fotografie nach dem Ende der Fotografie, in: Ausstellungskatalog Städel Museum Frankfurt, Fotografien werden Bilder. Die Becher-Klasse, a.a.O., vgl. S. 110. 18 • Ebd., vgl. S. 110. 19 • Alexander Alberro, Vom Verschwinden des Nüchternen, in: Ausstellungskatalog Städel Museum Frankfurt, Fotografien werden Bilder. Die Becherklasse, a.a.O., S. 25. 20 • Jean-Christophe Ammann, Einführung Die erzählerische Dimension der Bilder, in: Katalog XL Photography 2, Deutsche Börse AG (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit, 2003, vgl. S. 10. 21 • Martin Engler, Die Becher-Schule. Fotografie nach dem Ende der Fotografie, a.a.O., S. 113