Anne Wauters (deutsch)

 
DIE VISUELLE KONZEPTION IM WERK VON ROLAND FISCHER
 

Die beiden letzten Serien von Roland Fischer, mit den Titeln Knockouts (1995) und
Kathedralen (1996) sind sich trotz eines auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Motivs
sehr ähnlich, durch die Spannung, die aus der Begegnung der Gegensätze herrührt, wie
sie auch den früheren Los Angeles Portraits (1989-1993) sowohl in der Interaktion von
Hintergrund und Motiv als auch von Inhalt und Form gleichen.
Obwohl die Knockouts den entscheidenden Augenblick des Zusammenpralls zweier
Boxer darstellen, konzentrieren sie sich auf denjenigen, der unter dem Schlag des Gegners
taumelt. Diese Filmischen Bilder wurden nachträglich im Computer bearbeitet, die
Zuschauermenge im Hintergrund des Kampfes durch eine monochrome Fläche ersetzt. Das
Vorhandensein dieser abstrakten Fläche zeigt die Beziehung zu den vorherigen Werken
Los Angeles Portraits (oder Nonnen und Mönche), auf denen der Hintergrund genauso
wichtig war wie das Motiv selbst, welches dadurch seine thematische Funktion verliert, um
eher zu einem der Pole des Bildes zu werden. Die Bilder der Serie Los Angeles Portraits
beruhen nämlich auf dem Eintauchen einer Frauenbüste in einen Swimming-
pool, dessen Farbe den monochromen Hintergrund liefert. Der Kontrast zwi-
schen diesem organischen Leben und dem abstrakten Hintergrund führt zu
einer Spannung zwischen den beiden Elementen – auf der einen Seite das
Menschliche, von einem freien und bewußten Willen bewegt, auf der ande-
ren der abstrakte Hintergrund, der ein deterministisches Konzept andeutet.
Das Wasser, das am unteren Rand des Bildes wieder zu Materie zu werden
scheint und sichtbar wird, um sich mit dem Biologischen zu vereinen, versinnbildlicht das
Konzept nach welchem „der Mensch sich zwischen Freiheit und Bestimmung“ (1) befindet.
Das Werk von Roland Fischer beruht auf dieser Spannung zwischen Freiheit
und Form, zwischen Freiheit und Struktur, ein Gegensatz, der eher komple-
mentär wirkt, wie der Mensch, der „weder nur Materie noch nur Idee“ ist.
Der Hintergrund des Bildes ist nie wirklich nur ein solcher, weil er Sinn
macht. So bildet zum Beispiel in den Knockouts der Körper durch seine Farbe
und die Beschaffenheit der Haut einen Kontrast zu dem grellen Hintergrund.
Da die Aktion direkt nach dem Uppercut festgehalten wird, erscheint die Haut
mit einer farbigen Verwischung überzogen, die vom Aufwärtshaken herrührt, die Gesichts-
züge werden vom Schlag entstellt, und die Form neigt dazu, sich aufzulösen, was den Kon-
trast mit der monochromen Farbe des Hintergrundes noch verstärkt.
Die starke Präsenz des Hintergrundes trägt zu dem Gefühl einer Verlangsamung und
einer gedämpften (komaartigen?) Stille bei, gerade in dem Augenblick, da der getroffene
Boxer das Bewußtsein verliert und dadurch den Eindruck vermittelt, als wolle er sich in dem
farbigen Hintergrund auflösen und dabei in gewisser Weise in eine andere Ebene des Bil-
des gleitet wie in einen anderen Bewußtseinszustand. Dieser Bewußtseinsverlust entspricht
einem Lebensverlust – eines der Bilder, das eine Verformung zu einem Totenkopf darstellt,
zeigt das sehr deutlich. Das Bild kann also nicht nur als bergang von Handlung zur Bewe-
gungslosigkeit, sondern auch als der Moment des Übergangs vom Leben – was schon in
den Los Angeles Portraits angelegt war – in den Tod empfunden werden. Dieser Begriff des
Ubergangs zwischen zwei Zuständen steht im Mittelpunkt von Roland Fischers Werk, weil
er zugleich Bindeglied und Verwandlung zweier offenbar ganz entgegengesetzter Begrif-
fe ist und die Ineinanderverkeilung von zwei unzertrennlichen Prinzipien wie Leben und
Tod ermöglicht. In gleicher Weise ruft dieses Leben, das einer der beiden Boxkämpfer
dabei ist zu verlieren und der andere unversehrt beibehält, eine andere Dualität hervor,
die an jene erinnert, die im Mittelpunkt der Los Angeles Portraits steht, und weist
ebenfalls auf die Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen, die auch die Serie der
Kathedralen bestimmt.
Letztere ergeben sich aus der exakten Überlagerung einer Innen- und Außenansicht der
Kirche aus gleicher Perspektive. Über den ersten Eindruck einiger Arbeiten hinaus, die
durch Farbe und Vorherrschen der Linearität (Bögen, Rippen) an alte Pläne und Stiche
erinnern, über das Zögern des Auges, das einige architektonische oder bildhauerische Ele-
mente erfassen will hinaus, über die Betonung der Größe des Bauwerks und seiner Ver-
tikalität, die ein Streben nach oben ist, hinaus, findet man einerseits die Verbindung zwi-
schen Innen und Außen, die Roland Fischer wichtig ist, weil sie auf Bewußtseinsinhalte
verweist, die für jedermann angesichts alltäglicher Fragen nachvollziehbar sind, anderer-
seits den Begriff der Transparenz, der in dem Motiv der Kathedrale gegenwärtig ist, wie-
der. Die Fassade der gotischen Kathedrale offenbart nämlich nach
außen, was innen sichtbar ist, so z.B. die waagerechte Unter-
teilung des Mauerwerks. Mit Hilfe der digitalen Techniken
führt der Künstler diese Angleichung bis an ihre Grenzen. Wie
durch die Perspektive angezogen wandert das Auge in die Tiefe
des Kirchenschiffes und kehrt zur äußeren Ebene der Kirche zurück
oder umgekehrt von der Fassade zum Chorraum in einem unauf-
hörlichen Wechsel. Unter diesen Bedingungen existiert der Hintergrund des Bildes, von
dem man weiß, wie wichtig er im Werk ist, eigentlich nicht mehr oder er wird eher über-
betont und wechselt je nachdem, ob das Auge die Außen- oder Innenansicht bevorzugt.
Diese Virtualität betont die Relativität der visuellen Wahrnehmung, die mit der Relativität
der mentalen Wahrnehmung der komplexen Beziehung zwischen Außen und Innen
zusammenhängt. Die Kathedralen bilden also keine Ausnahme zu dieser Regel des Dia-
logs der Prinzipien, denn durch ihre Verbindung von zwei komplementären Polen zeigen
sie, da1ß, wie Determinismus und Freiheit, Spiritualität und Materialität, Innen und Außen
eine Einheit bilden.
Dieser Architekturtypus nämlich, der viele Öffnungen ermöglicht (manchmal sogar bis
zur Entmaterialisierung), durch die Wellen göttlichen Lichtes eindringen, stärkt den Glau-
ben durch die Anziehungskraft des Raumes, den sublimierenden
Charakter des Lichts, die Farben der Glasfenster und den vertika-
len Drang der Erhöhung, während die Kraft, die Präzision und die
Linearität der Strukturen uns in die materielle Welt zurückführen.
Hier vollzieht sich in der Tat die perfekte Harmonie von Spiritualität
und Materie, Freiheit und Struktur, Seele und Körper, sogar des
GöHtlichen und des Menschlichen – dessen hier zwar begrenzte
Anwesenheit genauso logisch wie symbolisch ist.
Darüber hinaus besteht ein Kontrast zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Bau-
werks. Im Inneren des Gebäudes können (und wollen) wir nicht die in diesem Gebäude
wirkenden architektonischen Gesetze verstehen, das aus lauter Spannung besteht. Was
das Äußere betrifft, ist es leichter, das Zusammenspiel der Druckverhältnisse und der tech-
nischen Lösungen (Strebepfeiler, Strebebögen, ….) zu erkennen, die das Gleichgewicht
erzeugen und den überwältigenden Eindruck produzieren, den man im Innern spürt. In
dem, was der Architekturhistoriker N. Pevsner (2) als „,Gegensatz zwischen einem Innen-
raum, der ganz von gläubigem Empfinden, und einem Außenraum, der ganz von logi-
schem Intellekt geprägt ist“, beschreibt, befinden wir uns auch hier vor einem Dialog der
Antagonismen.
Die gotische Mauer in ihrer Feinheit und Schlankheit, manchmal sagar in ihrer Durch-
sichtigkeit ist ein osmotischer Übergang zwischen Außen und Innen, zwischen dem Welt-
lichen und dem Religiösen, zwischen dem Zeitlichen und dem Spirituellen, zwischen die-
sen Polen, die sich ständig gegenseitig durchdringen.
Außerdem ist die Wahl des Motivs der Kathedrale logisch in einem Werk, in dem einige
frühere Arbeiten nicht nur mit Religiosität oder dem Heiligen zu tun hatten, sondern wie im
Falle der Los Angeles Portraits auf der Philosophie von Augustinus und seinen Nachfolgern,
rund um das Problem der menschlichen Freiheit basieren. Es existiert also eine Verbindung
zwischen der Kathedrale – indem sie einen neuen Typus von Architektur darstellt, der auf
altbewährten Architekturtechniken beruht, die eine hohe leichte innere Struktur ermög
lichen – und der Scholastik, die zur gleichen Zeit mit bereits vorhandenen Elementen (den
Lehren des Aristoteles und der Bibel, der Theologie und der Philosophie …) ein neues intel-
lektuelles System aufbaut, das genauso komplex ist wie die Konstruktion einer Kathedrale.
Wenn die Zeit in den Los Angeles Portraits komprimiert ist, in den Knockouts in der
Schwebe, so dehnt sie sich hier aus, denn sie ist für die visuelle Wahrnehmung notwendig,
um abwechselnd Innen- und Außenraum zu bilden, während umgekehrt die Flächen und
der Raum zusammengedrückt sind. Das extreme Beispiel dieses Zusammenpressens ist im
Bild des Kölner Doms sichtbar: diese Ansicht bietet dem Auge weniger räumliche Tiefe. Der
Zuschauer wird dadurch weniger vom Raum „aufgesogen“, und da er sich von der äuße-
ren Erscheinung nicht so leicht das Innere der Kirche vorstellen kann, wird er vor allem mit
der so charakteristischen schwarzen Masse und dem daraus entströmenden Gefühl der
Ewigkeit konfrontiert. Dieses Ineinandergedrücktsein übersetzt auf wunderbare Weise die
Idee des Künstlers, nach der die beiden Seiten ein und derselben Sache unzertrennlich sind
Die totale Gleichsetzung von Signifikant und Signifikat steht im Mittelpunkt der Bilder
von Roland Fischer und trägt dazu bei, da das Werk uns hilft, die widerstreitenden Bezüge
zwischen gegensätzlichen Elementen wie die Begriffe von Innen und Außen als ein Ganzes
zu verstehen.
Ohne die Art Information, die uns zum Beispiel Reportagefotografie entziffern läßt,
bleibt das Bild auf sich selbst zurückgeworfen, „erschließt sich (sein) Inhalt über die Form‘
(1), führt seine präzise visuelle Erscheinungsform zu der Idee, die dem Bild zugrundeliegt
Die künstlerische Ausführung, die hier genauso wichtig ist wie die Idee, macht es zu einem
zwar konzeptuellen Werk, aber weder im historischen noch im strengen Sinn des Wortes.
Visuelles und Ideelles, Form und Inhalt befinden sich auf der gleichen Ebene, und der
Betrachter erfährt sie in einer sehr konsequenten Gleichzeitigkeit innerhalb dieses Werk-
komplexes, der von der Komplementarität des Gegensätzlichen spricht.

Anne Wauters

Übersetzung: Helgard und Michel Mercier

(1) Vgl. hierzu das Gespräch mit Norbert Bauer, veröffentlicht im Katalog der Ausstellung
im Kunstbunker Nürnberg, 1995.
(2) in „ An Outline of European Architecture“ Penguin Book, 1943. Anne Wauters (* 1958)
ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Ausstellungskommissarin. Sie ist Dozentin an
der Ecole Nationale Supérieure des Arts Visuels in La Cambre. Sie lebt in Brüssel.

Veröffentlicht in: Roland Fischer, Overbeck-Gesellschaft Lübeck