Andrea Marlen Esser: „Ästhetische Erfahrung als Konstruktion“, 1996

 

Prof. Dr. Andrea Marlen Esser

„Ästhetische Erfahrung als Konstruktion“

Die Ausgangsfrage dieses Symposions lautet: gibt es ästhetische Erfahrung wirklich oder ist sie ein Mythos? Diese Frage möchte ich unter dem Aspekt der Eigenständigkeit, das heißt die Irreduzibilität der ästhetischen Erfahrung auf andere Erfahrungsbereiche und -formen entwickeln. Dies soll erstens und negativ in der Abgrenzung gegen institutionstheoretische Bestimmungen des ästhetischen Erfahrens und Kommunizierens geschehen. In einem zweiten Teil soll sich positiv der Entwurf des Konzeptes einer reflexiven Pragmatik der Sinnlichkeit anschließen. Die Forderung der Sinnlichkeit im ästhetischen Erfahren zu verwirklichen, scheint mir das zentrale Anliegen einer Theorie der Kunst und ihrer Rezeption. In einem dritten Teil werde ich versuchen, diese reflexive Pragmatik der Sinnlichkeit konkret an den Arbeiten von Roland Fischer darzustellen.
 
 
 
Sie sehen hier einige fotografische Arbeiten von Roland Fischer. Drei Portraits sind Aufnahmen von Mönchen, dieses hier zeigt eine Frau vor blauem Grund, jenes stellt Ausschnitte einer Kathedrale dar. Die Aufnahmen der Mönche stammen aus den Jahren 1984-86. Sie sind Teile einer Bilderserie von Nonnen und Monchen, die in Frankreich, Belgien und der Schweiz aufgenommen wurde. Diese Aufnahme (Mönch 1) hängt im Musee d’Art Moderne de la Ville de Paris (MAM) in Paris, die anderen beiden sind im Besitz französischer und deutscher Privatsammlungen. Dieses Bild (die Frau vor blauem Grund) wurde in einem Swimming Pool aufgenommen, sodass das umgebende Wasser den Hintergrund bildet und zugleich die Gestalt als Büste heraustreten lässt. Es ist ebenfalls einer Serie, den sogenannten LA-Portraits, entnommen, entstand 1993 in Los Angeles und ist in der Foundation National in Paris ausgestellt. Die architektonische Aufnahme ist eine neue Arbeit
und zeigt zwei sich überlagernde Ausschnitte der Außenfassade und des Innenraums des Kölner Doms. Was lässt sich nun zu diesen Bildern sagen?
Man kann an den Gewändern etwa die Ordenszugehörigkeit der Mönche erkennen und weiss dann, dass diese Mönche dem Zisterzienserorden angehören. Vielleicht erkennt man diese Hintergründe in den Aufnahmen wieder, und sieht manche Gesichter von dem Leben im Orden geprägt.
Die spontane Reaktion, gerade auf Portraits, ist meist von deren unmittelbarer Wirkung auf die Person des Betrachters mitbestimmt. Je nach persönlicher Einschätzung wird man die Frau auf diesem Photo vielleicht als sympathisch oder kühl. als streng oder blasiert empfinden. Würde man sie kennen, könnte man noch sagen, ob sie auf dem Bild „gut getroffen“ ist oder nicht. Zieht man weitere Informationen heran, verschafft dies neue Perspektiven: Die Aufnahmen realisieren eine Idee, einen Gedanken des Fotografen. Die Entstehung dieser Idee sowie ihre Umsetzung kann dann auf ihre gesellschaftlichen, biographischen oder künstlerischen Vorgaben hin untersucht werden.
Eine solche Methode analysiert schrittweise verschiedene Ausdrucksebenen, für die die Vorlage das „Material“ bereitstellt. Zunächst können wahrgenommene Farb- und Formverhältnisse unmittelbar als Gegenstände identifiziert werden. Der Betrachter erkennt das Gesehene als Fall einer bestimmten Gegenstandsklasse, als eine menschliche Gestalt oder ein bestimmtes Bauwerk. Um sicherzugehen, dass das, was ein Werk darstellt, richtig erkannt wurde, ist der Bildtitel oder ein Kommentar hilfreich. Wird diese Beschreibung mit weiteren Themenkreisen – Mythologien, den individuellen Bedeutungsgebungen des Künstlers oder allgemein verwendeten Symbolen in Verbindung gebracht, eröffnen sich weitere Bedeutungsebenen. Unter Rückgriff auf einen umfassenderen Rahmen, den allgemeinen Entstehenskontext, kann die Darstellung dann einer bestimmten Schule oder Epoche zugeordnet, oder als Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes in einen Kontext eingeordnet werden. Die Komplexität solcher Interpretation steigt mit dem Wissen des Betrachters. So können bislang unbekannte Bedeutungen eines Sujets eröffnet werden, wenn neue Kenntnisse – etwa durch Forschung und neue Forschungsmethoden, verflübar werden. Im Gegensatz zur naiven, kunsthistorisch nicht geschulten Betrachtung, regt hier der intellektueller Hintergrund zu einer Kommunikation über Kunst an. Die Kommunikation über Kunst vollzieht sich in Erkenntnisaussagen. Deren Grundstruktur lässt sich zeichentheoretisch folgendermaßen fassen: Das Gesehene, die Darstellung wird als Repräsentation – als Mönche, als Frau im Wasser etc. verstanden. Die sich daran anschließenden Erklärungen rekonstruieren das Zustandekommen des jeweiligen Werkes und bilden so Ursachenerklärungen im weitesten Sinne. Sie sind im Rahmen einer kunstwissenschaftlichen Arbeit nachprüfbar.
Die Kommunikation über Kunst kann auch die Art der Darstellung – also wie bestimmte Inhalte in einem Medium präsentiert werden, erfassen. Die Relation von gewußtem bzw. Intendierten Gehalt und der Darstellung kann analysiert werden. Sie mag sich als ikonisch, indexikalisch, symbolisch erweisen – je nach Verwendung der gestalterischen Mittel. Diese können dabei durchaus selbstreferentiell verfasst sein und zugleich auch die denotierten Eigenschaften besitzen. Das vorgefundene Zeichenverhältnis kann dann etwa mit semiotischem Instrumentarium klassifiziert und kommuniziert werden.
Da nun in dieser Kommunikation über Kunst nur das konstitutiv ist, was begrifflich erfasst werden kann, muss man eine Darstellung gar nicht gesehen haben. Es genügt ein guter Katalog, eine exakte Beschreibung. Ebenso kann die zugrundeliegende formale Bildidee mitgeteilt werden, wie im Fall der Mönche etwa: ein Sujet zu finden, das bereits von sich aus eine starke formale Reduktion mit sich bringt, das als Gegenstand schon seinen eigenen Rahmen beinhaltet. Mit diesem Wissen kann man an einem Gespräch dieser Art über Kunst teilnehmen. Wie lässt sich innerhalb eines solchen Interpretationsverfahrens ästhetische Erfahrung begreifen? Offensichtlich verliert angesichts des allgemeinen Inhalts dieser Kommunikation der Begriff der ästhetischen Erfahrung seinen eigentlichen Sinn, denn es lässt sich hier keine spezifisch ästhetische, d.h. sinnliche Erfahrung mehr fassen. Dieser besondere Faktor im Umgang mit Kunstwerken kommt in der kognitiv akzentuierten Kommunikation nicht mehr zum Tragen. Die ästhetische Erfahrung verflüchtigt sich.
„Assoziationen mögen ja bei der Betrachtung von Kunstwerken eine enorme Rolle spielen“, so Wittgenstein, aber wir können alle diese Assoziationen auch bei einem anderen Bild haben (also bei einem anderen Mönch, vielleicht sogar einem, den wir selbst aufnehmen, oder auch einen, den wir sehen) und würden trotzdem immer noch dieses Bild sehen wollen.“ Genauso abwegig erscheint es Wittgenstein, die Wirkung von Kunst aus dem persönlichen Belieben zu erklären. „Würde man Kunstwerke genießen, nur um einen bestimmten Effekt zu erzielen, dann könnten wir sagen, “Dies ist genauso gut wie das andere, ich habe dabei dieselben Assoziationen.” Wittgenstein schließt daraus für den Umgang mit “Kunst: „Es scheint das Bild zu sein, auf das es am meisten ankommt, Assoziationen können sich ändern, Einstellungen können sich ändern, aber wenn man das Bild auch nur im Geringsten ändert, mag man es nicht mehr sehen.“ Ästhetische Kommunikation, so seine Beschreibung, hat vielmehr den Charakter von Aufforderungen und Hinweisen auf das Bild.

Ihrem Wortsinn nach ist ästhetische Erfahrung eine Erfahrung, die sich auf die Sinnlichkeit bezieht. Das trifft sich mit der von Wittgenstein festgestellten Spezifität ästhetischer Kommunikation, die mit Nachdruck auf die Darstellung selbst – auf ihre individuelle Besonderheit verweist. Hiermit ist ein Vorverständnis einer Erfahrung artikuliert, die sich nicht durch jene kognitiven oder auch persönlichen Erfahrungen ausdrücken lässt, die also in der Kommunikation über Kunst oder persönliches Kunsterleben ausgeblendet wird.
Die Frage nach einem solchen Konzept „ästhetischer Erfahrung“ stellt sich also in unserem Zusammenhang als Konstruktionsaufgabe. Worin besteht das Eigenständige, die Autonomie der Kunst? Anders gefragt, nicht wie wird über Kunst kommuniziert, sondern wie kommuniziert Kunst selbst?
Die Aufgabe, kunstimmanente und damit spezifische Erklärungen ästhetischer Kommunikation namhaft zu machen, wird vielfach im Rahmen eines institutionstheoretischen Ansatzes zu klären versucht. Man erkennt die Besonderheit künstlerische Darstellung an und versucht sie – nicht reduktionistisch – aus den Gesetzen der Kunst selbst zu erklären. Auch hier wird das Problem von Kunstwerk und Gehalt explizit thematisiert und versucht,ein „intrinsisches Verhältnis“, eine nicht mehr trennbare Relation herzustellen, um die individuelle Darstellung nicht aus dem Blick zu verlieren.
Eine solche Untersuchung betrachtet Kunst von einem Außenstandpunkt, und zwar als gesellschaftliche Institution. Das Funktionieren dieser Institution wird als systemisches Operieren nach eigenen Gesetzen begriffen. Die Analyse legt die Bedingungen dieses Funktionierens frei und erklärt damit die Fortsetzung der Operationen. „Ästhetische Erfahrung“ tritt in dieser Perspektive als eine Codierung auf, die angewendet wird, wenn im Kontext Kunst kommuniziert wird.

Eine Codierung dient allgemein der Strukturierung von Kommunikation. Sie erlaubt, jedes Vorkommnis unter einer spezifischen Differenz zu erfassen. Im Kunstsystem tritt die Codierung als die Unterscheidung „dieser Gegenstand ist ästhetisch erfahrbar / nicht ästhetisch erfahrbar“ auf. Innerhalb des Kunstsystems kann über Vorkommnisse nur im Rahmen dieser Unterscheidung kommuniziert werden. Alle anderen Unterscheidungen werden für dieses gesellschaftliche Subsystem irrelevant. Ob ein Kunstwerk wahr/falsch ist (ob die Frau, der Mönch, auch in Wirklichkeit so aussehen wie auf der Fotografie), ob jemand dafür bezahlt oder nicht (das wäre der Code des Wirtschaftssystems) wird dabei ausgeschlossen. Zwar kann jedes Kunstwerk auch unter verschiedenen Bezugssystemen betrachtet werden, etwa, ob die Kunst für andere Teilsysteme, fremde Zwecke, politisch oder ökonomisch verwertbar ist. Die Eigenständigkeit der Kunst hängt aber davon ab, dass sie ihre Operationen nach Gesetzen vollziehen kann, daß sie sich selbst nicht nur im Rekurs auf die eigene Geschichte, sondern in einer gegenwärtigen Operation aktualisieren kann. Der Code, so Luhmann, „kann nicht aufgegeben werden, ohne dass die Kunst ihre Eigenständigkeit, ihre besondere „Adresse“ im System gesellschaftlicher Kommunikation verlöre“.

Wie kommuniziert nun Kunst? Luhmann sagt: durch Kunstwerke. Das unterscheidet die Kommunikation der Kunst von Kommunikationen, die nur Sprache benutzen und ebenso von indirekten Kommunikationen, die sprachanalog gebaut sind. Die Kommunikation der Kunst – kann nicht Kommunikation über Kunst sein, kann nicht im Decodieren von Inhalten bestehen. Denn: „Es ist das Bild, auf das es ankommt”. Kunst kommuniziert also durch die anschauliche Präsenz des Kunstwerkes – nicht mittels begrifflicher Gehalte.
Der Code der Kunst bestimmt also die Anschauung des Sujets als Objekt der Kommunikation und lenkt die Kommunikation auf deren Strukturen. In diesem Sinne sind Kunstwerke also selbstpräparierte Wahrnehmungen – die es ermöglichen, in eine Kommunikation einzutreten.

Innerhalb der Kunst gibt es nun eine ständige Beschäftigung damit, was Kunst sei, doch die externe Perspektive kann nur die faktischen Selbstbestimmungen der Kunst betrachten und muss hinnehmen, was sich als Kunst durchgesetzt hat. Plausibel wird, dass und warum sich eine Codierung herausgebildet hat, nicht aber, ob die Codierung selbst sachhaltig ist und ihren Grund in
einer wirklichen Erfahrung hat. Über die Frage nach der Kommunikation als solcher hinaus stellt sich die Frage nach der Denkbarkeit und Realisierung der ästhetischen Erfahrung. Die Systemtheorie beschwört diese Frage schon herauf, in dem sie die Kommunikation an die Anschauung bindet. Kann jedoch methodisch durch den bloßen Zugriff auf die empirisch beobachtete Kommunikation den dabei festgestellten Anspruch nicht begründen. Ohne eine solche Legitimation kann jedoch nicht entschieden werden, ob diese Codierung nicht doch ein nicht sachhaltiger Mythos ist: Auch ein Mythos kann für seine Institutionalisierung sorgen.
Unter welchen Strukturbedingungen der anschaulichen Präsenz Kommunikation möglich wird und worauf die Kommunikation der Kunst den Code festlegt, kann aus der externen Beschreibung des Kunstsystems nicht geleistet werden. Eine philosophische Begründung der ästhetischen Erfahrung erfordert die Konstruktion und Rekonstruktion der Innenperspektive – sie muss also aus der Selbstbeobachtung der Kunst heraus vollzogen werden.

Diese Innenperspektive meint nicht das Sprechen in der ersten Person. Die Faktizität, die sich in jedem Sprechen in der ersten Person realisiert, bedarf vielmehr erst einer Legitimation. Dazu genügt nicht der Bezug auf einen faktischen Bewußtseinsvollzug, die systemeigene Codierung kann nur in der Selbstbeobachtung der Kommunikation der Kunst fundiert werden. Darin müssen die Konstruktionsbedingungen einer, wie ich es nenne: reflexiven Pragmatik der Sinnlichkeit entwickelt werden, die zeigen, wie Kunst mit Anschauungen kommunizieren kann – wie sie durch die „Selbstprogrammierung von Wahrnehmung“ mitteilbar wird. Die Frage nach dem Code der Kunst lautet also: Wie kann durch Anschauungen, durch Darstellungen, also durch Kunstwerke, kommuniziert werden?

Betrachtet man die Kommunikation der Kunst selbst, kehrt sich das Verhältnis von Sinn und Anschauung um: Weder wird ein bereits bestehendes Zeichenverhältnis nach Wahl der Ausdrucksmittel klassifiziert. Noch wird vom Sinngehalt ausgehend die Darstellung unter diesen subsumiert bzw. die Manifestation dieses Gehalts im Kunstwerk nachzuweisen versucht. Die Kommunikation der Kunst nimmt ihren Ausgang von der Anschauung der Darstellung, aber nicht um Assoziationen zu bewirken. Die Kommunikation der Kunst spricht nicht über die Wahrnehmung und ihre Klassifizierbarkeit, sie konstatiert weder spielerisch Mehrfachbedeutungen von Figurationen, noch berichtet sie über ein „Sehen als“. Man beschreibt in der ästhetischen Kommunikation nicht was man unmittelbar vor Augen hat, sondern, wie Wittgenstein betonte, man macht auf etwas im Bild aufmerksam, was man beobachten kann, wenn man sich richtig bezieht, d.h. wenn man wirklich beobachtet und nicht beschreibt. Hier geht es also um das Zeichen selbst. Die Anschauung soll nach eigenen, internen Gesetzen, also von sich heraus bedeutungsvoll sein. Diese Bedeutungsgenerierung ist also ein selbstreferenter Prozess. Die Ermöglichung dieses Prozesses stellt sich dem Künstler als Herausforderung. So formuliert etwa Braque die Aufgabe künstlerischer Arbeit: „In der künstlerischen Produktion geht es darum, eine Bildwirklichkeit zu schaffen“, „eine neue Realität in den Grenzen der bildnerischen Mittel“ (Mondrian). Dieser Versuch kann in der Tat auch scheitern – nicht jede „Selbstprogrammierung“ der Wahrnehmung glückt, nicht jede Anschauung stellt Strukturen bereit, die sich im Rückbezug zu einer künstlerisch gelungenen Dichte und Bedeutung vernetzen lassen. Es gibt das missglückte Werk, die unzulängliche Darstellung, die entweder hermetisch bleibt, weil ihre Strukturen nur private Dispositionen realisieren, die dadurch nicht visualisierbar sind, oder die einen Ausdruck mittelbar oder unmittelbar über den gedanklichen Sinn herstellt und so systemfremde Unterscheidungen zur Hilfe nehmen mu&. Sie entwickelt dann nicht selbstreferentiell eine Pragmatik der Sinnlichkeit, sondern sorgt fremdreferentiell – in dem sie die Darstellung als Mittel gebraucht – für eine Bedeutung.

Diese Überlegungen erfordern die Annahme einer zweiten Ebene und damit einem Ort, an dem sich die Selbstreferenz der Wahrnehmung herstellen kann. Einen Ort an dem Strukturen des Bildes visualisiert werden können, damit sie die Bedeutungen verfiigbar machen. Dieser Ort liegt nicht in der Darstellung selbst – der Code kann nicht unmittelbar durch Anglotzen der Darstellung angewandt werden, sondern muss im Betrachter – oder: Beobachter liegen. Dieser realisiert in der Beobachtung der Beobachtung die Selbstreferenz, die in den Strukturen der Darstellung angelegt ist. Diese Selbstreferenz nimmt keinen Umweg über einen Gehalt, sondern stellt sich in der Beobachtung – in der Visualisierung her. Pragmatik der Sinnlichkeit bedeutet also: in der Beobachtung eine werkimmanente Bedeutung herzustellen, die sich ihre Herstellungsregel nicht außerkünstlerischen Faktoren entlehnt.
An einer Darstellung werden Farben und Formen in Bezug gesetzt und in der Betrachtung selbst Verhältnisse zwischen den raum-zeitlich geordneten Farbeindrücken des Sujets gebildet. Sie werden nicht unter einem möglichen Gehalt verstanden, sondern die Vorlage wird in dieser relationalen Verhältnisbildung in ein System interner Differenzen übersetzt: Einem – für sich genommen – unmittelbaren Farbeindruck wird in dieser Verhältnissetzung zu einem ihm differenten, bzw. zu einem Vorgänger oder Nachfolger, ein Wert gegeben. Dieser ist ein bestimmter Wert im Gegensatz zur unbestimmten Qualität eines unmittelbaren Farbeindrucks, aber auch qualitativer Wert im Unterschied zu einer Klassifizierung nach Begriffen. Diese qualitativen Werte werden an einer Vorlage also nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern setzen den Vollzug aktiver und schöpferischer Betrachtung voraus. Andererseits sind diese Werte sinnliche Qualitäten, die als solche nur empfunden werden können, denn die Verhältnisse müssen herausgesehen, bzw. – gehört werden und sind deshalb nicht begrifflich beschreibbar. Ästhetische Werte sind daher, so konnte man mit de Saussure in Analogie zu seiner Theorie der Sprache sagen, etwas „vollständig Relatives„. sie sind nicht objektivierbare Eigenschaften der Vorlage, sondern ergeben sich immer nur in der jeweils vollziehenden Beobachtung.

Damit ist unsere Art der Wahrnehmung für die Herstellung dieser asthetischen Werte konstitutiv: Die Werte stellen sich in einem zeitlichen Vollzug her: sie werden damit in der Beobachtung sukzessiv strukturiert. Diese ästhetischen Werte können fixiert und aus dem zeitlichen Zusammenhang des faktischen Beobachtungsvollzugs gehoben werden. Die Fixierung – sie führt nicht zur begrifflichen Bestimmung des Sujets – sondern kann und muss jederzeit wieder aufgehoben werden. Ein Quadrat als Fläche zu sehen, erzeugt einen anderen ästhetischen Wert als die Aufmerksamkeit auf seine Begrenzung als Linie zu richten. Eine schwarze Figur im Verhältnis zu einem grauen Grund, erhalt einen anderen Wert als in Bezug zu weißem Grund.
Wenn die Formenbewegung der Verhältnisbildung und ihre Fixierung so in ein sinnvolles Ganzes vernetzt werden kann, gesetzt werden können, ist das, was das Kontinuum vermittelst allgemeiner Strukturen benennt, ein Symbol. Symbolisiert wird im Symbol nicht ein Gegenstand der Betrachtung, sondern die Struktur der Betrachtung selbst. Die Begriffe beziehen sich also nicht auf eine Beobachtung erster Ordnung, sondern werden auf die Beobachtung der Beobachtung angewendet. Sie stehen damit im Kontext ästhetischer Beobachtung und haben nur dann eine Bedeutung, wenn die Vorlage tatsachlich unter dem Code ästhetisch erfahrbar/nicht ästhetisch erfahrbar betrachtet wird. Ohne den faktischen Vollzug dieser Betrachtung, sagen diese Begriffe nichts, bleiben sie ohne Referenz. Damit ist jede intellektuelle Zurichtung des Symbolbegriffes ausgeschlossen.
So kann die Beobachtung sich überkreuzender diagonaler Linien als „Bewegung“ symbolisiert werden: In der Beobachtung der Beobachtung, auf das Abtasten dieser Form mit dem Blick, können Strukturen übertragen werden, die bei der Beobachtung faktischer Bewegungsabläufe latent wirken und unsere Wahrnehmung strukturieren. So etwa das Bewegungsschema: Anfang und Endpunkt der Wahrnehmung liegen an verschiedenen Orten. Weder sind nun die Diagonalen selbst bewegt, noch werden sie unter dem Begriff der „Bewegung“ verstanden. Ihre intellektuelle Decodierung würde dazu führen, daß die Diagonalen als Darstellung eines Buchstabens, etwa des Vs identifiziert wird.
Der Begriff der Bewegung bezieht sich also nicht auf die wahrgenommene Gestalt selbst, sondern beschreibt den Vollzug der Wahrnehmung, wenn er in der Reflexion bewusst wird: Also auf unser Sehen dieser Form.
Kunst kommuniziert also durch Kunstwerke – wenn, so müsste man sagen – ein Beobachter in der Beobachtung eines Kunstwerks eine ästhetische Bedeutung herstellen kann. Uber dieses Hergestelltsein kann man auch kommunizieren. Aber diese Kommunikation vollzieht sich in Hinweisen auf das Sujet, es gibt Tips für die Konstruktionsmöglichkeit einer Bedeutung, die aber jeder Beobachter selbst realisieren muss. Diesen Prozess kann man nun als „ästhetische Erfahrung“ bezeichnen. Insofern lässt sich nun sagen: ästhetische Erfahrung — in diesem Sinne verstanden – ist kein Mythos. Sie ist aber, weil sie sich in der Beobachtung der Beobachtung realisiert, nicht theoretisch nachweisbar. Einer wissenschaftlichen Untersuchung, die ihre Kommunikation an der Beobachtung erster Ordnung verifizieren muss, ist sie – aus methodischen Gründen unzugänglich. Daher könnte man sagen, dass der Begriff: ästhetische Erfahrung unglücklich ist. Denn die Bedeutung der Kunst wird nicht erfahren, sondern von dem Betrachter in der Beobachtung der Beobachtung hergestellt. Man muss eigentlich sagen: Ästhetische Erfahrung ist ein Konstruieren im Sinne der reflexiven Pragmatik der Sinnlichkeit.
Man wird einwenden, daR wir aber immer schon auf einen möglichen Sinn hin sehen und unsere Wahrnehmung dadurch prädeterminiert ist. Dies illustriert jedoch nur, dass wir uns gewöhnlich in der erkennenden Intention befinden. In der ästhetischen Kommunikation wird diese Intention aufgebrochen. Der Sinn, der in der Kommunikation über Kunst vorausgehen muss, ist in der ästhetischen Betrachtung ein Produkt der Beobachtung. Dieser Sinn kann variieren, wenn sich die sehende Bezugnahme auf das Sujet, etwa veranlasst durch einen Kommunikationspartner, ändert. So entstehen in der Betrachtung möglicherweise andere ästhetische Effekte, die dann zu anderen
Vernetzungen führen. In der freien Kombinatorik der Wahrnehmung bauen sich einerseits immer komplexere Einheiten auf. Zwischen diesen kann andererseits, wenn sie vermittelst symbolischer Anwendung einer Gesetzmäßigkeit des Verstandes aufeinander beziehbar sind, eine Vernetzung aufgebaut werden, die sie in immer allgemeinere Einheiten zusammenfasst. Unabschließbare Kombinationen qualitativer Art können so in wechselseitigem Rückbezug von internen Differenzen und allgemeinen Strukturen entstehen. In der Realisierung dieser Möglichkeit liegt die ästhetische Bedeutung einer Vorlage: Die Darstellung kann im Code der Kunst als ästhetisch erfahrbar qualifiziert werden. Ihre Form, bzw. farbliche Komposition ist geeignet, um daran in der Beobachtung eine ästhetische Bedeutung herzustellen. Diese ist kein externer gedanklicher Sinn, sondern eine bildimmanente Realität.
Die ästhetische Konstruktion gründet sich also nicht auf mathematische, formulierbare Gesetze, sondern entnimmt diese dem Bild, besser gesagt der Anschauung des Bildes selbst. Um das Bildhafte, nicht um die Repräsentation von etwas geht es auch Roland Fischer. Fr arbeitet mit Reduktionen und Formgebungen, die den Darstellungscharakter, in diesem Fall des Portraits zum Verschwinden bringen sollen. Formgebende Reduktionen blenden die gegenstandsbildenden Bedeutungen ab, aktivieren die Sinnlichkeit des Betrachters und machen ihn so erst zum Betrachter. In den Aufnahmen der Mönche soll das Gesicht als Form des Individuellen zur Darstellung kommen. Das Individuelle als solches wird dabei aber nicht vorausgesetzt, um im Bild wiedererkannt zu werden als jemandes Gesicht. Vielmehr wird das Gesicht selbst, die Gesichthaftigkeit als Darstellung des Individuellen zum Thema. In Analogie zu einer skeptischen Zweifelsbewegung wird es in Frage gestellt, gewissermaßen in die Epoche gesetzt, um – sozusagen ästhetisch – als sinnliche Form wiedergewonnen zu werden. Dem Verlust des Individuums entspricht die Aneignung der Form der ästhetischen Individualität. Wegwerfen und wiedergewinnen. Betrachtet man die Bilder lediglich als Portraits, ist man über das ästhetische Projekt Roland Fischers immer schon hinweggegangen. Dieses nämlich besteht darin, nicht Figuren vor Grund darzustellen, die als individuelle Substanzen den Blick in ihre Tiefe locken, um ein Inneres zu entschlüsseln, vielmehr wird das Innere reine Funktion der Darstellung, Funktion der Fläche, ein bildnerisches Mittel, die allein in der Fläche operieren. Die ästhetische Valenz basiert gerade auf dem Verlust der Tiefe und der bildnerischen Eroberung der Fläche. Identifiziert man, um dieses Projekt nun anhand der Aufnahmen der Mönche zu konkretisieren, diese als Gesichter und versteht ihre Züge als Ausdruck von Freude, Güte, Verstimmtheit, als Träger von überindividuellen Pathoszeichen, verfehlt man ihre Individualitat schon im ersten Blick.

Die Aufnahmen der Mönche – ich beziehe mich zur Veranschaulichung hauptsächlich auf diese Darstellung – machen sich die schon mit dem Sujet gegebene Reduktion – die Reduktion der Darstellung durch die Kutte auf das Gesicht zunutze.
Zwischen der homogenen beigen Fläche und der strukturierten weißen Umrahmung gibt es graduelle Übergänge. Die Farbe des Hintergrundes setzt sich in den strukturierenden Farbabstufungen der Kutte fort. Die Ränder sind nicht scharf gezogen, sondern bilden sich graduell. Die farbliche Abstufung des Weiß stellt Strukturierung her, dennoch bleibt diese Form intern amorph, gestaltlos. Sie erzeugt nur Plastizität. Der Ausschnitt, den die Kutte freiwerden lässt, ist dagegen – in einer Linie unten direkt, durch den Hell-Dunkel-Kontrast oben indirekt klar geschnitten. Diese Grenze zeichnet die Öffnung für das Gesicht, das im Verhältnis zu den Umrahmungen umso prägnanter hervortritt.
Um die vorschnelle Vertrautheit mit einem Gesicht, die sich intellektuell durch die Anwendung eines Ordnungsschemas herstellt, aufzubrechen, kann die Serie hilfreich werden, denn sie erzwingt das „Sehen des Sehens“. Im Durchgang durch die drei Bilder wird das Gesicht zur ästhetischen Form. Die Augen, Münder und Falten hören auf, Charaktermerkmale zu sein und werden als freie Formen sichtbar. Im Vergleich bildet sich eine Querstruktur, die Ähnlichkeiten auflöst. Das Gesicht wird zu einer fremden und ungewohnten Mannigfaltigkeit. Das Gesicht ist nicht mehr Figur vor Hintergrund, sondern wird zur Landschaft. Die Frage, Was ist ein individuelles Gesicht? stellt sich neu. Sie lautet nicht mehr: Wie erkenne ich ein Gesicht als Gesicht sondern: Wie sieht ein Gesicht aus? In der Mannigfaltigkeit gibt es keine Mundform, keine Augenform, keinen Vergleich, keine Ähnlichkeit mehr. Nur intensive Größe und Farbeindruck. Was als Nase und Mund sichtbar wird, resultiert aus den Flächen und Kontrasten der Farben. Aus dem Weiß/Schwarz der Kutte tritt das Gesicht hervor, nicht als geordnete Konstruktion, nicht als graduell hergestellte Struktur, sondern als eine Modulation, die beides vereint und dennoch ein qualitativ anderes ist: eine freie Form die weder konstruierbar ist, noch chaotisch. Sie erhält ihren ästhetischen Wert in Relation zu der weißen Strukturierung der Kutte, die wiederum ihren Wert aus der Absetzung gegen den monochromen Grund erhält.
An den Augen wird dies ebenso deutlich. Die runde Pupille für sich ist ausdruckslos, nicht-individuell, lediglich quantitativ differenzierbar. Nur in Relation zu den freien Linien der Lider, die sie umspielen, zu der Linie der Augenbrauen wird diese geometrische Form expressiv.
Weder die homogene Fläche, noch die das Gesicht umrahmende Kutte sind hierbei bloßer Hintergrund. Die Figur ist nicht hineingesetzt in einen Grund, nicht umhüllt von einer Kutte, sondern der Grund ist konstitutiv für den bestimmten Wert in der ästhetischen Formierung dessen, was wir schließlich als ein Gesicht identifizieren können. Durch diesen Bildaufbau wird eine Deutung des Bildes nach dem Schema: Figur vor Hintergrund verweigert, weil die Kutte nicht gegenüber dem Gesicht zurücktritt, sondern den Ausschnitt des Gesichtes aktiv festlegt und als strukturierter Raum eine Vorstufe der Individualform darstellt. Also genau das Gegenteil der Version: „Figur vor Grund”, in der die Figur die Form des Hintergrundes bestimmt. Die Kutte tritt damit als gleichwertiges Bildelement im Verhältnis zu dem Gesicht auf. Sie legt fest, wie das Gesicht gesehen werden will. Die Komposition ist von daher geschlossen: sie wird auch in der Betrachtung nicht aufgelöst.
Auf ganz andere Weise arbeitet das LA-Portrait. Während das Gesicht des Mönches aus einer Mannigfaltigkeit heraustrat, erscheint der Umriss der Frau in der monochromen, blauen Flache. Die Form resultiert aus dem Kontrast zweier Flächen. Wie die Reduktion nicht mehr mit dem Sujet gegeben ist, “sondern durch die Platzierung des Sujets bewirkt wird – da die Figur durch das Wasser als Büste geschnitten wird – formiert sich das Gesicht hier ebenfalls durch eine Grenze von Außen. Aus dem Außen prägt das Blau den ästhetischen Effekt, läßt das Gesicht kühl und künstlich erscheinen. Das Gesicht ist selbst helle, plane Flächigkeit. Hier ist es nicht die Farbenvielfalt, die eine Modulierung vornimmt und ein Gesicht, wie bei dem Mönche, gleichsam von innen heraus treten läßt, sondern allein die Linie, Zeichnung nur, die sich bis zu den linear geordneten Haaren durchhält. Der Blick geht hier nicht in das Gesicht hinein, taucht nicht ein in die Feinstruktur der Wahrnehmungselemente, sondern bleibt an den Konturen orientiert. In der Betrachtung wird die Form im Wechsel von blauer Fläche und heller Fläche fixiert. Die starke Formalisierung des Gesichtes selbst und seine Einbettung in das Blau betonen das Maskenhafte des Gesichtes. Das verhindert von vornherein die physiognomisch orientierte Bestimmung, aber ebenso auch die Deutung als Landschaft. Die porzellanene Fläche läßt sich nicht öffnen. Sie tritt als Gesicht hervor durch Farbe und Grenze, bloße wechselseitige reduktive Formierung. Zwar setzt sich das Blau auch im Innen, im Gesicht fort, aber es tritt gleichsam als Spiegelung an ihm auf und modelliert es von außen. Die Zentrierung im Rot der Lippen sorgt weder für eine Vertiefung, noch für eine Plastizität der Fläche.
Die Differenz zwischen Gesicht und Hintergrund liegt lediglich in Farbe und Linie: keine interne, nur externe Differenzen. Reines Nebeneinander. Das bewirkt den Eindruck von Klarheit, der in Konsequenz durchgehalten, in Künstlichkeit umschlägt. Innen und außen diffundieren lediglich an der Schnittstelle der Büste in einem transparenten Streifen.
Ihren Höhepunkt findet die Verweigerung der gedachten Tiefe in der Überlagerung zweier sich ausschließenden Sichtweisen desselben Raumes. Der Blick auf die Außenfassade und den Innenraum des Kölner Domes, schließen sich zu einer unendlich durchbrochenen Fläche zusammen. Diese Fläche ist eine selbständige Einheit, die in der Betrachtung nicht mehr aufgelöst werden kann.
Zunächst wird der Blick auf die helle Fläche im Zentrum gelenkt, der den Beobachterstandpunkt, die Höhe des Sehens festlegt. Dieses Sehen ist schwebend, weil seine Höhe nicht perspektivisch auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist. Auf den ersten Eindruck scheint das Bild symmetrisch aufgebaut, bei näherem Hinsehen erweist sich diese Symmetrie als eine vorschnelle Abstraktion – so wie bei dem Gesicht das Schema. Sieht man auf die einzelnen Elemente wird die Symmetrie permanent durchbrochen. Zwar bewirken die Wiederholungen der Bögen und Spitzen eine Grundstrukturierung des Bildes, die in sich das Zugleich der Gegenteile: Rund und Spitzbogen realisiert, das Ganze aber mittels der Diagonalen bricht.
Die Fläche, die sich in dieser Art aus unendlichen Einheiten und diese Einheiten schneidenden Diagonalen aufbaut, die also eine sich selbst durchbrechende Fläche, oder besser: sich gegenseitige durchbrechende Flächen sind, die sich wiederum aus Linien bilden, bewirkt eine Auflösung und Dematerialisierung der Masse, Grundidee der Gotik. Jede Abteilung, die der Blick fixiert, wird zugleich durch eine weitere Durchkreuzung wieder aufgehoben und der Blick dadurch wieder ins Schweben gebracht. Betrachtet man den Kölner Dom als Gebäude mit Grenzen, so wirkt er zwar in der Quantität überwältigend, kann aber immer noch von seiner Begrenzung her gesehen werden. Theoretisch gesehen, zeigt die Aufnahme von Roland Fischer zwar einen Teil des Kölner Doms, ästhetisch gesehen jedoch ist seine Begrenzung nicht organisch durch das Sujet bestimmt, sondern lediglich durch die Bildgrenze. Der Blick wird vollständig immanentisiert. Das Sehen webt gleichsam aus den Strukturen eine Fläche, da die Einheiten, Linien, Fixierungen immer vorläufig sind und im weiteren sich unendlich überlagern, durchkreuzen, vertexten. In der Betrachtung findet der Blick keine optische Beruhigung, sondern wird geradezu rauschhaft beschleunigt.
Das innere Prinzip der Gotik wird so verselbständigt und in der Betrachtung vorgeführt. Insofern zeigt sich auch eine Selbstreferenz des Prinzips: der Gedanke der Entmaterialisierung in der Architektur, wird hier in seiner Struktur vorgeführt, immateriell – aber nicht ablesbar in der Beobachtung, durch die Abbildung des Doms, sondern in der Beobachtung der Beobachtung die hier das eintauchen in eine unendliche Textur, eine Lichtung der Fläche, die nur auf der Basis der Linie und des Lichtes stattfindet.
Insofern lebt die Darstellung zwar von der Gotik, ist aber eine ästhetische Reflexion auf die Gotik mit heutigen Mittel: auf das ästhetische Prinzip der Gotik. Nämlich aus einer Materialität die Aufhebung der Materie entstehen zu lassen. Dies spiegelt sich wieder in der Auflösung des Bogens in der Spitze: Inkommensurabel für den Blick – der Blick wird dieses Bild nie beherrschen, sondern immer auf sich selbst gelenkt werden. Insofern zeigt das Bild an sich – also von dem realen Beobachterstandpunkt aus gesehen, Unbeobachtbares. Es zeigt ein Bild, das nur auf der Ebene der Beobachtung der Beobachtung möglich ist – die Reproduktion der Außenperspektive in die Innenperspektive bzw. umgekehrt. Damit entsteht eine eigene Ebene in der äußeren Anschauung: als realisiertes Paradox des rauschhaften Blicks, der sich an der Fläche reflektiert.

Prof. Dr. Andrea Marlen Esser ist Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Vortrag gehalten 1996 auf dem Symposion: Mythos der ästhetischen Erfahrung, FOE, München