Agar Ledo im Gespräch mit Roland Fischer 2003

 
Santiago de Compostela 2003
 

Agar Ledo: In Ihrem Projekt, das Bezug nimmt auf Santiago de
Compostela und den Pilgerweg, haben Sie neue Arbeiten integriert,
die eine Fortführung Ihrer Serie der Kathedralenbilder sind. Wie
sind Sie in den 90er-Jahren erstmals auf Kathedralen als Bildthema
gekommen?
Roland Fischer: Die Kathedralenbilder sind eigentlich als eine logi-
sche Folge aus den Projekten, die ich vorher gemacht hatte hervorge-
gangen, als ich mir überlegte, wie ich die Dinge, die mich bei den
Serien der Nonnen und Mönche und den Los Angeles Portraits beschäf-
tigten, in den Bereich der Arcitektur übertragen könnte. Ich fand eine
Entsprechung zur konzeptuellen Thematik der Portraits in dem, was ich
mit dem „Paradox des Raumes“ umschreiben würde. Ich begann dann,
den Innenraum eines Gebäudes mit seinem Außenraum zu überlagern
und die einzigen Gebäude, deren Inneres in Größe und Struktur dem
Äußeren, ihrer Fassade entspricht, sind Kathedralen.
AL: In Ihren ersten Kathedralenbildern wählten Sie gotische Architek-
tur, deren Symbolismus ebenso stark ist wie beispielsweise bei den
Nonnen und Mönchen. Wie kam es zur Verwendung von Typologien mit
solch starker Aussagekraft?
RF: Dafür gibt es eine relativ einfache Erklärung. Aus meiner Sicht
habe ich keine Portraits im klassischen Sinne gemacht, denn der Bild-
teil, der nicht vom Portrait selbst abgedeckt wird, hat für mich trotzdem
die gleiche Wichtigkeit. Bei den Nonnen und Mönchen wollte ich mit
den Formen auf der Bildfläche eine visuelle Spannung zu erzielen. Vor-
her, bei meinem ersten Projekt mit schwarz-weiß Portraits, hatte ich
bereits versucht, vom Abbild ins Bildliche zu kommen, das große For-
mat hatte sich dadurch ganz natürlich ergeben. Dann wollte ich etwas
mehr Abstraktion und stellte mir vor, daß das Gesicht nicht mehr vom
Hintergrund der Person sondern von strengeren Formen quasi einge-
rahmt würde. Dazu ergaben sich zwei Möglichkeiten, entweder
Scheichs zu fotografieren (was ich übrigens damals auch getan habe)
oder eben Nonnen und Mönche. Natürlich habe ich dann die letzteren
ausgewählt, weil sie in unserer Kultur wesentlich mehr Bedeutung
haben. Alle visuellen Elemente sind von hohem Symbolgehalt. Das
Besondere daran war, daß ihre Erscheinung ja schon „Kunst“ ist, denn
die Art ihrer Bekleidung stellt bereits eine Abstraktion dar.
AL: Ich sehe in Ihrer Arbeit disparate Konzepte, Begrenztes und Unbe-
grenztes, Endliches und Unendliches..
RF: Darin spiegelt sich für mich auch eine grundlegendes Aporie, von
der der Mensch umgeben ist. Das menschliche Sein definiert sich in
gewisser Weise durch eine Vielzahl von paradoxen Situationen, wir
haben den Körper und den Geist, wir leben, aber werden sterben, wir
haben die Freiheit zu handeln, jedoch nur innerhalb begrenzter Mög-
lichkeiten. Viele dieser Antagonismen sind kaum zu verstehen und
dennoch sind es genau diese Dinge, die das menschliche Wesen kon-
stituieren. Auf visueller Ebene, auf Bildern, sind manche dieser Erfah-
rungen direkter umsetzbar als durch Sprache. Als ich nach den Por-
traits begann, mich mehr und mehr für Architektur zu interessieren,
entdeckte ich dazu eine Art Analogie, was den Raum betraf, sozusa-
gen das Paradox des Raumes, die Tatsache, daß es ein Innen und ein
Außen gibt. Deshalb wählte ich Kathedralen als Bildmaterial. Das
Ergebnis der Überlagerungen von innen und außen repräsentiert
natürlich nicht mehr das Gebäude, so wie man es kennt, oft kommt
etwas völlig Verschiedenes dabei heraus, manchmal ähnelt es mehr
einer Dekonstruktion.
AL: So wie später in der Kollektivportraits haben Sie bei den Los Ange-
les Portraits bereits Personen in einem spezifischen Moment und einer
gegebenen Situation aufgenommen.
RF: Die Los Angeles Portraits erwecken vielleicht eher den Eindruck
von Isolation, von „jeder Mensch in seiner Nacht“. Worum es mir bei
den beiden Portraitserien nicht ging, war die Verschiedenheit der
Individuen zu zeigen. Vielmehr ging es um die Frage, was ist eigent-
lich Individualität? Was mich interessiert hat war das Problem der
Identität.
Als ich zum erstenmal nach China kam, konnte ich beobachten, wie
stark selbst in dieser Massengesellschaft der Wunsch jedes einzel-
nen war, sich von den anderen zu unterscheiden, möglicherweise
sogar stärker als in westlichen Ländern. Die Idee der Kollektivpor-
traits war, ein großen Bild zu machen, das hunderte Personen ent-
halten würde, wie ein Muster, eine visuelle Wiederholung anein-
andergereiht. Um eine anonyme Masse zu vermeiden, habe ich jeden
einzeln portraitiert und mit seinem persönlichen Namen versehen.
Das Bild kann man dann als ganzes betrachten oder aber auf die indi-
viduelle Person eingehen.
AL: Von Anfang an haben Sie in Serien gearbeitet. Wann betrachten
Sie ein Projekt als begonnen beziehungsweise beendet, in konzeptio-
nellem Sinn?
RF: Wenn man ein paar Jahre an einem Projekt arbeitet, was ja oft
schon die Umstände wie zum Beispiel die Reisen oder technische
Schwierigkeiten erfordern, kommt man auch tiefer rein und entdeckt
neue Aspekte. Ich würde nicht so weit gehen und sagen, ab jetzt
mache ich kein neues Kathedralenbild mehr oder nie mehr ein Los
Angeles Portrait. Es kann durchaus interessant sein, zu einem zukünf-
tigen Zeitpunkt, mit neuen Erfahrungen oder einem neuen Ansatz eine
noch nicht aufgedeckte Seite eines Projektes zu erforschen. So war
jetzt zum Beispiel die Einladung des CGAC, die Architektur des Pilger-
wegs zu fotografieren ein Anlaß, neue Techniken für die Kathedralen-
bilder einzusetzen, zu denen ich mich von den vielen unterschiedlichen
Stilen der Sakralbauten entlang des Camino anregen ließ.
AL: Seit Bernd und Hilla Becher hat einen ganze Reihe deutscher Foto-
grafen das architektonische Portrait zur Grundlage ihrer Arbeit
gemacht. Stehen Sie selbst einer Schule oder Künstlergruppe nahe?
RF: Nicht wirklich. Als ich zu arbeiten anfing, war die sogenannte Foto-
kunst (Kunst direkt oder ausschließlich mit dem Medium Fotografie)
gerade in den Anfängen. Bernd und Hilla Becher unterrichteten in der
deutschen Tradition der Dokumentatarfotografie, wie Sie erwähnt
haben. Mich hatten damals andere Aspekte des Mediums Fotografie
interessiert, mehr das Bild, weniger das Abbild.
AL: In Anbetracht Ihrer Werkgruppen möchte ich Sie zu Ihrer Erfah-
rung in China fragen, wo Sie die letzten beiden Serien begonnen
haben….
RF: Als ich in Los Angeles lebte, habe ich bereits viele Fotos von den
„Oberflächen“ der Stadt gemacht. Los Angeles ist visuell sehr faszi-
nierend durch seine urbane Abstraktion, Baudrillard nannte sie als Bei-
spiel für seine Simulationstheorie. Doch erst in den Metropolen China
wurde mir plötzlich bewußt, wie ich dieses Material für meine Arbeit
nutzen konnte. Ich habe also Foto von Hochhausfassaden gemacht und
einen Ausschnitt gewählt. Einige der Wolkenkratzer sind puristisch und
perfekt, wie z.B. die Bank of China von I.M.Pei, andere ähneln eher
Experimenten mit Formen und Farben. Hier konnte ich jedenfalls zwei
entscheidende Aspekte des Mediums Fotografie auf den Punkt brin-
gen: die Tatsache das jeder Pixel einer Fotografie immer mit der Rea-
lität verbunden ist und die unabhängige Erscheinung einer Fotografie
als Bild ohne Referenz. Von weitem könnte man diese Fotos sozusagen
als „, Color Field Paintings“ wahrnehmen, auf der anderen Seite bleiben
sie ein „klassisches“ Foto eines Objektes, das irgendwo besichtigt
werden kann. Im Bild sind beide Aspekte verwoben, jedes Detail hat
eine Doppelbedeutung.
AL: Und wenn wir die beiden Aspekte zusammenführen, kommen wir
zum statischen Punkt des Bildes. Wie der Augenblick des Übergangs
zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren…
RF: Durchlässigkeit und Übergang sind für mich wichtige Begriffe. Sie
stehen für die Differenz, für eine Grenzsituation.
AL: Die zweite Serie, die Sie in China begonnen haben, sind die Kol-
lektivportraits. Was Gegensätze betrifft, stellen hier die gesellschaft-
lichen Gruppen die Einheit zwischen dem isolierten Individuum und sei-
nem globalen Kontext, der Gruppenzugehörigkeit, her. Gab es bei den
Kollektivportraits einen soziologischen Ansatz?
RF: Klar, immerhin sind es Bilder von gesellschaftlichen Gruppen. Ich
habe mit den Studenten angefangen, dann die Stahlarbeiter, die Bau-
ern und die Soldaten realisiert. Bei allen handelt sich um die soge-
nannten Säulen der kommunistischen Gesellschaft. Die Studenten
(übrigens Elite-Studenten der Beida-Universität) repräsentieren dabei
so etwas wie die intellektuelle Zukunft Chinas, während die Stahlar-
beiter für die große wirtschaftliche Utopie der Maozeit stehen. Die
Bauern sind seit tausenden Jahren das Fundament des Staates, noch
heute gibt es über 750 Millionen, und die Soldaten sind einfach Teil der
letzten großen kommunistischen Armee. Was ich thematisieren wollte,
ist die Tatsache, daß es immer auch den anderen gibt, in diesem Fall
bildet jeder einen Teil seines sozialen Kontextes.
AL: Die Abstraktion bei den Kollektivportraits ist die Gemeinschaft
selbst, bei der die Parameter Zugehörigkeit und Ort verknüpft sind.
Später haben Sie die Idee mit Gruppenportraits im Westen weiterent-
wickelt.
RF: Dazu habe ich teilweise den Ansatz verändert und die Auswahlkri-
terien ausgetauscht. Statt sich auf eine soziale Gruppe in ihrer Abge-
schlossenheit zu beziehen habe ich einen spezifischen Ort und einen
bestimmten Zeitrahmen gewählt. Wir haben zum Beispiel ein Kollektiv-
portrait im Frankfurter Flughafen produziert, wo ich circa 1200 Perso-
nen im Transitbereich fotografiert habe. Das daraus entstandene Bild
ist ein Portrait eines Ortes, resultierend aus der einmaligen Mischung
aller Personen, die zu einer bestimmten Zeit hier durchgegangen sind
und die jeden Tag eine andere ist. Das hat das Element des Zufalls mit
hereingebracht.
AL: So wie bei dem Pilgerportrait, das in der Ausstellung hängt?
RF: Genau. Es ist in gewisser Weise das unsichtbare Portrait eines
Ortes, des Platzes Obradoiro vor der Kathedrale, wo jeder, der wäh-
rend der Zeit unserer Aufnahmen ankam, seines Stempel mittels sei-
nes Portraits hinterlassen hat. In Santiago haben wir praktisch eine
Kombination der beiden Aspekte: Menschen, die nur für eine
bestimmte Zeit einer Gruppe im soziologischen Sinn angehören und
sich an einem spezifischen Ort zusammenfinden.

 
published in: Roland Fischer „CAMINO“, CGAC Centro Galego de Arte Contemporanea 2003
 
Agar Ledo is a Spanish curator