Einführung

 

Der Mensch kann mit dem Mund so viel lügen, wie er will; aber mit dem Gesicht,
das er macht, sagt er doch die Wahrheit.

Björn Vedder

2016

Roland Fischers Kollektivportrait israelischer Studenten ist im Januar 2015 in Tel Aviv entstanden. Es zeigt die Gesichter von etwa 1000 Studenten der dortigen Universität in einem Raster. Die einzelnen Gesichter sind freigestellt, frontal fotografiert und blicken den Betrachter mit offenen Augen an. Unter jedem Portrait steht der Name des oder der Abgebildeten. Es sind Bilder, die „ich“ sagen und uns herausfordern, zurückzublicken und eine Antwort darauf zu geben, wer dieses „ich“ in unseren Augen ist.

Eine dieser Antworten gibt im vorliegenden Band der (deutsche) Philosoph Bernhard Waldenfels. Ihm geht es darum, wie die Identität des Einzelnen mit seinem Gesicht, mit seinem Namen und vor allem mit der Identität eines Anderen verbunden ist. Denn in dieser Beziehung auf den Anderen wiederholt sich das Wechselspiel der Blicke, der Ansprache und Antwort, das wir spielen, wenn wir ein Portrait betrachten. Wir werden angeschaut und blicken zurück; jemand richtet ein Wort an uns und wir antworten ihm. Es ist die Urszene unserer Identität ebenso wie der Gemeinschaft: „Jede Singularität“, schreibt Waldenfels, „ist eine Singularität im Plural.“

Eine andere Antwort gibt der (israelische) Soziologe Moshe Zuckermann. Er versteht die im Portrait sichtbare Heterogenität der Gesichter als ein Spiegelbild der politisch spannungsvollen Identität Israels, deren verzweigte Linien er nachzeichnet. Dabei macht Zuckermann deutlich, in welchem Maße die israelische Politik versucht, Einheit zu stiften, indem sie Heterogenität verhüllt oder sogar unterdrückt und welche Rolle dabei die Ideologie des Zionismus und die Verbrüderung gegen den Feind Palästina spielen. Dagegen, und hiermit bindet Zuckermann seine Analyse an Fischers Kollektivportrait zurück, wäre ein Verständnis von Demokratie aufzurufen, das den Demos weder als Einheit voraussetzt noch in der Verbrüderung gegen den Feind erzwingt, sondern in der demokratischen Repräsentation erschafft.

Damit plädieren die Antworten der beiden Autoren auf das „Israelische Kollektivportrait“ für ein Verständnis von Identität, nach dem sich diese erst aus der Beziehung auf den Anderen ergibt, dabei dessen Fremdheit jedoch bewahrt, und werben für eine Form der Gemeinschaft, die einschließt, ohne auszuschließen, die verbindet, ohne zu trennen. Der Philosoph Jacques Derrida hat solch eine Beziehung als Freundschaft beschrieben, und als Zeichen der (deutsch-israelischen) Freundschaft kann auch das „Israelische Kollektivportrait“ von Fischer verstanden werden. Voraussetzung jeder Freundschaft ist freilich, dass der Andere aufhört, ein (ganz) Fremder zu sein.[1] Indem Fischer über 1000 junge Israelis portraitiert, sie uns anblicken lässt und uns auffordert, zurückzublicken, trägt es dazu bei, diese Voraussetzung zu erfüllen. Es wurde der Öffentlichkeit erstmals am 10. November 2015 anlässlich der Eröffnung des neuen israelischen Generalkonsulats in München am Lenbachplatz präsentiert und wird ab März 2016 im Eretz Israel Museum in Tel Aviv zu sehen sein.

Einen persönlichen Beweis der Freundschaft, die sich in der Arbeit ausdrückt, gibt Assaf Pinkus, der die Produktion in Tel Aviv mit großem Engagement betreut und das Kollektivportrait so erst ermöglicht hat. Besonderer Dank gebührt auch Andreas Michaelis, der als deutscher Botschafter in Israel entscheidende Kontakte vermittelt hat, und Joseph Klafter, dem Präsidenten der Tel Aviv Universität, für seine freundliche Unterstützung.

Schließlich spiegelt sich die deutsch-israelische Beziehung auch in der Gestaltung des Bandes. Philippe Loup hat ihn so strukturiert, dass er, wie im Deutschen, von links nach rechts (von vorne nach hinten) und ebenso, wie im Hebräischen, von rechts nach links (von hinten nach vorne) gelesen werden kann.

Eine weitere Antwort auf das Kollektivportrait könnte es in den Kontext der Portraitfotografie rücken. Schließlich bildet sie, neben der Architekturfotografie, das Zentrum von Fischers Werk, wobei es bezeichnend ist, dass sein Interesse in beiden Fällen vor allem der Fassade gilt.

Unter den Portraits sind die sogenannten Pool-Portraits, die Fischer in Los Angeles, Shanghai und Peking aufnahm, von seinen Kollektivportraits zu unterscheiden. Beide betonen je unterschiedliche Aspekte der „Kaskade von Antinomien“, zwischen denen Fischer den Menschen aufgespannt sieht – etwa die Polarität zwischen Körper und Geist oder die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gruppe, um noch einmal den Gedanken der Identität aufzugreifen.

Dabei fordern uns die Kollektivportraits auf, unseren gewohnten Umgang mit den allgegenwärtigen Bildern von Gesichtern zu überdenken. Denn dank der immer komfortableren Reproduktionsmöglichkeiten gibt es mittlerweile kaum mehr einen Ort in der Welt, an dem kein Bild aufgestellt wäre, von dem uns ein Gesicht anblickt. Diese „Ich-Plakate“, wie der Historiker Valentin Groebner sie nennt, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich und fordern uns auf, unsere Empfindungen und Gedanken mit den Empfindungen und Gedanken abzugleichen, die wir hinter den Gesichtern vermuten, die uns anblicken. Dafür müssen wir das im Portrait abgebildete Gesicht als das Gesicht eines lebendigen Menschen auffassen.[2]

Diese Gesichter sind die – von manchem Kulturkritiker als illegitim beargwöhnten – Erben des künstlerischen Portraits. Genau wie jenes inszenieren sie das Gesicht als Spiegel eines mit Affekten, Gefühlen und Gedanken begabten Wesens, und wir verhalten uns als einfühlende Betrachter ihnen gegenüber ganz ähnlich wie der Interpret eines künstlerischen Portraits, der darin einen bestimmten Gehalt ausgedrückt findet.[3]

Wenn wir uns von einem Portrait angeblickt fühlen und auf diesen Blick antworten, dann lesen wir also die im Portrait erzeugte Maske des Gesichts als lebendigen Spiegel der Gefühle und Gedanken der abgebildeten Person. Diese selbstbewusste Schlussfolgerung vom abgebildeten Gesicht auf die unsichtbaren Eigenschaften, Gedanken und Empfindungen des oder der Portraitierten gehört zu den am sichersten eingeübten Praktiken in unserem Umgang mit Portraits.

Fischer spielt mit dieser Gewohnheit, indem er im „Israelischen Kollektivportrait“ zur einfühlenden Identifikation mit gleich 1000 Gesichtern auffordert. Neben der quantitativen Dimension, von der im Anschluss noch die Rede sein soll, sind zwei Aspekte dieses Arrangements entscheidend: Erstens sind die Portraitierten zusätzlich noch in ihrem sozialen Status und namentlich gekennzeichnet. Zweitens fügt Fischer dem Kollektivportrait einen Film hinzu, der Passanten auf dem Rothschild Boulevard zeigt, die in ganz ähnlicher Weise wie die Portraitierten frontal in die Kamera schauen und darüber sprechen, wo sie und ihre Familie herkommen, was sie empfinden, ob und in welchem Maße sie die (israelische) Geschichte als Teil ihrer Identität verstehen, was es für sie heißt, israelisch zu sein, was sie über Deutschland denken und was sie von der Zukunft erwarten oder sich wünschen.

Eine vollständige Transkription dieser Antworten findet sich am Ende des Buches (S. 184-187), Ausschnitte daraus sind neben den Portraits abgedruckt. So entsteht ein Wechselspiel zwischen Gesicht und Gefühl oder Gedanke, das die einfühlende Interpretation nachahmt, dabei jedoch die Willkür der Verknüpfung von Fassade und Inhalt deutlich macht. Denn wir wissen ja, dass die Interpretation des Gesichts eine kulturell gelernte Technik ist, mittels der wir aus dem Kontext, bestimmten Accessoires (wie Schmuck oder Kleidung), kodierten Ausdruckweisen (wie dem Blick oder der Haltung) und vor allem unter Einbezug unserer eigenen Erwartungen etwas in das Gesicht hineinsehen, was von ihm selbst aus vielleicht gar nicht darin ist. Gesichter bedeuten nämlich von sich aus überhaupt nichts. Wir vergessen es nur immer wieder, weil die Wahrheit des Gesichts zu unseren hartnäckigsten Vorurteilen gehört.[4]

Indem Fischers Kollektivportraits daran erinnern, weisen sie eine Wahlverwandtschaft zu den  Arbeiten zweier anderer bedeutender Künstler der Gegenwart auf: So lässt Cindy Sherman das immer selbe Gesicht, nämlich ihr eigenes, mittels Kostüm und Kontext, Make-Up und Frisur, Blick und Pose unzählige Personen und Gefühle ausdrücken, und so zeigt Thomas Ruff, dessen Arbeiten wiederholt zusammen mit denen Fischers ausgestellt worden sind, das Gesicht immer wieder als Fassade, hinter die wir nicht blicken können, weil die bedeutungsstiftenden Elemente weitestgehend getilgt worden sind. Eine solche Dekontextualisierung zeichnet auch Fischers Portraits aus und verbindet sie mit seiner Serie der Fassaden-Bilder.

Zur Auflösung des Gesichts als Chiffre tragen schließlich auch die Prinzipien der großen Zahl und der Serie bei. Georg Christoph Lichtenberg bemerkte einmal, man habe noch nirgends so hässliche Landschaften erblickt wie im menschlichen Gesicht. Das setzt freilich voraus, ihm so nah zu kommen und es so stark zu vergrößern, dass es nicht mehr als Gesicht erkenntlich ist, sondern sich in ein Terrain von Bergen und Tälern, Kratern und anderen tellurischen Auffälligkeiten verwandelt. Die entgegengesetzte Veränderung der Optik rückt das Gesicht in die Ferne und verkleinert es. So können wir umgekehrt, und das lässt sich an Fischers Kollektivportraits gut beobachten, eine große Anzahl von Gesichtern, wenn wir sie auf einmal in den Blick nehmen wollen, nicht mehr als Gesichter erkennen. Sie lösen sich dann auf in einen bunten Teppich. Wollen wir hingegen eines dieser Gesichter fokussieren, verlieren wir die anderen aus dem Blick. Sie verschwimmen oder werden beschnitten. Indem Fischer bei der ersten Präsentation des „Israelischen Kollektivportraits“ auf der Rückseite des Tableaus einen vielfach vergrößerten Ausschnitt zeigte, der ein Portrait in die Mitte setzt und acht weitere darum herum mitunter stark beschnitt, führte er das vor  (S. 179). Damit wir etwas als ein Gesicht erkennen, müssen wir unser Auge in einer bestimmten Entfernung halten und eine bestimmte Schärfe oder Unschärfe des Blicks einhalten. Wir müssen es als Gesicht erkennen wollen – und es bedarf nur einer kleinen Modifikation der Optik, damit aus ihm in unseren Augen eine Kraterlandschaft oder ein Fleck unter Flecken wird.

Wenn wir in der Serie von etwa 1000 Fotografien, die Fischer zu einem Portrait israelischer Studenten vereint, nun ein einzelnes Gesicht fokussieren, vertritt dieses Gesicht zugleich das Ganze. Es steht dabei jedoch in Konkurrenz zu 999 anderen Gesichtern, die das genauso tun. Ist indes jedes so gut wie das andere, dann ist die mit dem einzelnen Gesicht verbundene Repräsentation arbiträr. Was es bedeutet, deuten wir hinein.

Damit ist freilich nur eine kleine Auswahl der Antworten versammelt, die Fischers Kollektivportrait provoziert. Sie sind bei Weitem nicht erschöpfend, sie können es auch gar nicht sein. Nicht nur, weil die Kunst, wie Fischer sagt, inkommensurabel ist und von der Sprache nie eingeholt (oder auslegend erschöpft) werden kann, sondern auch, weil jede Antwort (nur) die bestimmte Antwort eines bestimmten Antwortenden ist. Denn wenngleich das Gesicht wohl kein verlässlicher Spiegel der Gefühle und Gedanken desjenigen ist, der uns daraus anblickt, spiegelt sich in unserer Antwort doch das, was wir denken und fühlen. Der Blick auf den anderen ist immer auch ein Blick auf uns selbst.

[1] Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, Berlin 2002, S. 362ff.

[2] Valentin Groebner, Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine, Frankfurt/Main 2015.

[3] Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 10.

[4] Wie verbreitet dieses Vorurteil trotz besseren Wissens ist, zeigt sich nicht zuletzt in der auch unter Experten verbreiteten Klage, die überreichliche Verbreitung von Portraits habe zu einer Verflachung ihres Ausdrucks geführt. Dem entspricht die Sehnsucht, in portraitierten Gesichtern einen „Inbegriff von Humanität“ zu finden. So spricht etwa der Kunsthistoriker Hans Belting (entgegen dem eigenen Befund einer kulturellen Codierung des Gesichts) von einer „facialen Gesellschaft“, in welcher „das Gesicht, das Motiv aller Portraits, in den Massenmedien inflationär geworden und deswegen auch billig zu haben“ sei. Und so begrüßte der Rezensent der Frankfurter Allgemeine Zeitung die 2011 im Bode-Museum ausgestellten „Gesichter der Renaissance“ als Möglichkeit, „in Gesichtern zu lesen, was es heißt, ein Mensch zu sein“ und „eine kraftvolle Identität als Individuum“ zu haben. Dagegen sah schon Hegel den Fortschritt der Portraitmalerei darin, den „lebendigen menschlichen Ausdruck“, die „charakteristische Individualität“ oder jeden beliebigen Inhalt in die „subjektive Besonderheit“ des Gesichts und die „bunte Äußerlichkeit“ seiner Darstellung im Portrait hineinzusetzen: „Dies Suchen eines lebendigen menschlichen Ausdrucks, einer charakteristischen Individualität, dies Hineinsetzen jedes Inhalts in die subjektive Besonderheit und deren bunte Äußerlichkeit macht den Fortschritt der Malerei aus, durch welchen sie erst ihren eigentümlichen Standpunkt erlangt“. Und was der Maler (oder Photograph) hineinsetzt, das liest der Betrachter (einer etablierten Übereinkunft gemäß) heraus. Belting, Faces, a.a.O., S. 118, 10. „Glücksmomente in Krisenzeiten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.2011. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III (Werke 15), Frankfurt/Main1986, S. 87.

 

Björn Vedder wurde 1976 in Brakel geboren und lebt als Schriftseller und Kurator in München. Seine Arbeiten befassen sich mit zeitgenössischer Kunst und Literatur.
 
Björn Vedder, Einführung
in: Roland Fischer “Tel Aviv – Israeli Collective Portrait”, published by Hirmer, Munich 2016