Von der Unmöglichkeit der Realität

Von der Unmöglichkeit der Realität – statt eines Vorwortes ein Paradoxon

Joachim Kaak

2003

 

Eine Auseinandersetzung mit den Werken Roland Fischers mit der Behauptung zu beginnen, der Künstler sei im Grunde genommen gar kein Fotograf, muß widersinnig, ja falsch erscheinen. Denn das bevorzugte, genauer: das ausschließliche Medium seiner künstlerischen Arbeit ist die Fotografie, die mit etwas über dreißig Exponaten in der Pinakothek der Moderne einen Überblick über das Schaffen Roland Fischers in den letz- ten Jahren gibt. Die gezeigten Beispiele aus den Serien der ›Nonnen und Mönche‹, der sogenannten ›Los Angeles Portraits‹, die ›Kathedralen‹ und die Ansichten von ›Hochhausfassaden‹ sind zudem unabweisbare Abbilder der Wirklichkeit, deren Authentizität in den jeweiligen Kontexten von individueller Biographie oder geographischem Ort verifizierbar ist. Mit anderen Worten: Die Porträts von Nonnen und Mönchen des Zisterzienserordens sind das Ergebnis einer langwierigen Arbeit in verschiedenen Klöstern Frankreichs, zu der neben der Recherche des geeigneten Sujets ebenso die Überzeugungsarbeit gegenüber den zu Porträtierenden wie die technische Vorbereitung und Ausführung der Aufnahmen gehörte.

Die in Los Angeles ausgeführten Pool Portraits sind das Ergebnis einer konzeptuell wie technisch aufwendigen Inszenierung, die neben der Ermittlung und der Benutzung geeigneter Swimmingpools die Beherr- schung einer durch die Reflexion der Wasseroberfläche nahezu unberechenbaren Lichtsituation voraussetzte.

Die ›Hochhausfassaden‹ sind Abbilder von Gebäuden, die uns wie die Bank of China in Hong Kong entweder als architektonische Ikonen vertraut sind oder die sich in der Anonymität modernen Bauens über unse- ren Köpfen einer unmittelbaren Vergegenwärtigung entziehen. Unabhängig davon aber verbindet sich mit jeder Aufnahme ein benenn- barer Ort zwischen New York und Beijing, Chicago und Singapore, den es zu bereisen und zu betreten gilt. Es mag an dieser Stelle daher erlaubt sein, auch den Bericht des Künstlers wiederzugeben, demzufolge die Angestellten des von den Schweizer Architekten Herzog und de Meuron in Basel erbauten Stellwerkes in beängstigendem Ausmaß damit beschäftigt sind, Architekturinteressierte von den Gleisanlagen zu holen, die zu dem formal wie in seiner Konstruktion beispielhaften Studienobjekt pilgern.

Die Ablichtung der Wirklichkeit bedarf also der Gegenwärtigkeit, und so sind nach Art und Ausführung des künstlerischen Mittels der Werke Roland Fischers wesentliche Aspekte der Fotografie erfüllt. Hält man jedoch die Äußerung des Künstlers dagegen, daß ihn »das ›Abbildende‹, also [das] dokumentarische, reportagehafte usw. am Medium Fotografie am wenigsten interessiert«1, so darf die zu Beginn aufgestellte Behaup- tung noch einmal wiederholt und ausgeführt werden.

Unübersehbar ist, daß Roland Fischer Raum und Zeit zielgerichtet aus seinen Fotografien tilgt; die für Dokumentation wie Reportage gleichermaßen unverzichtbaren Fragen nach dem Wann und Wo erscheinen obsolet oder tragen zumindest zur Bildfindung nicht wesentlich bei. Statt dessen etabliert sich ein Bild, dessen formale wie inhaltliche Strenge gleichsam unabhängig vom Medium der Fotografie erscheint – ja, mitunter deren oben skizzierte Aspekte nachhaltig negiert.

So zeigen die Hochhausfassaden nur kleine Ausschnitte, die, wie Santiago B. Olmo feststellte, sich zu Gemälden transformieren, deren Farbe und Form an die abstrakt-geometrischen Werke konkreter Kunst erinnern.2 Stürzende Perspektivlinien werden dabei mittels Paralaxen- ausgleich oder nachträglich am Computer korrigiert, während die Anonymität der meisten Motive die Bilder zusätzlich dem Mißverständnis einer wiedererkennenden Identifikation entzieht. Und selbst in den Architekturformen, deren Erscheinung, wie die der Bank of China oder des World Trade Centers in New York, zum Bestand eines allgemeinen Bildgedächtnisses gezählt werden müssen, erreicht die Verneinung des Gegenständlichen zugunsten des bildnerischen Zeichens eine Intensität, die entfernt an die Kreuzübermalungen Arnulf Rainers erinnert.

Der Ausschnitt der ›Hochhausfassaden‹ blendet den architektonischen wie lokalen Kontext aus und setzt damit die autonome Bildform gezielt in Widerspruch zur Abbildungsfunktion der Fotografie. Es ist dies ein Widerspruch, der in das Zentrum des Schaffens Roland Fischers führt; in den Serien der ›Nonnen und Mönche‹ sowie der ›Los Angeles Portraits‹ hatte er sich bereits angekündigt, kulminierte dort jedoch zunächst in der Zuspitzung des Sujets. So war die Ordenstracht der Zisterzienser, insbesondere deren Kapuze, geeignet, das Gesicht der Porträtierten zu isolieren, zu rahmen und im Verhältnis des gesamten Bildes neu zu formulieren. Im Gespräch mit Norbert Bauer hat der Künstler denn auch nachgerade von »Bildmassen« gesprochen, »die sich frei ›verschieben‹ ließen«.3 Damit gelang es Fischer, auch die Porträts eben der Realität zu entheben, die zugleich Voraussetzung für das Gelingen des Werkes war; eine Voraussetzung, die der Künstler mit den ›Los Angeles Portraits‹ nicht mehr mit der Auswahl des Gegenstandes verband, sondern selbst inszenierte. Denn während das Ordensgewand mit allen farblichen und ordnenden Eigenschaften noch sichtbar ambivalent Kontext und isolierende Bildform in sich vereinte, banden die ›Los Angeles Portraits‹ die abgebildeten Personen in eine Situation ein, die bereits selbst den Ansprüchen einer abstrahierenden, autonomen Bildform entgegenkam. Die blauen, grünen und schwarzen Swimming pools sind mithin mehr als die farbigen Hintergründe kommerzieller Porträtfotografen: Sie setzen de facto die zu porträtierende Person bereits den Eigengesetzlichkeiten einer visuellen Kunstform aus.

Hierin mag auch die suggestive und mitunter verstörende Wirkung der Werke Roland Fischers begründet sein, da die fast klassisch zu nennende Schönheit seiner Bilder nicht nur untrennbar mit dem Fremdsein der Person in dem inszenierten Kontext verbunden ist, sondern auch jede reportierende Wiedergabe von Wirklichkeit vermissen läßt. Eine dem diskursiven Charakter von Fotografie, Dokumentation und Reportage verpflichtete Haltung muß hier befremdet sein – ja, mißtrauisch jeder Behauptung gegenüberstehen, die Roland Fischer schlicht Fotograf nennt.

Tatsächlich ließe sich das Schaffen des Künstlers, wie die obigen Ausführungen nahelegen, mit einer paradoxen Aussage beschreiben, die qua definitionem wahr und zugleich falsch sein muß, möglicherweise aber gerade deswegen am besten zur Charakterisierung seines Œuvres geeignet wäre und entsprechend lauten müßte: Roland Fischer ist Fotograf und er ist es nicht. Dabei wäre noch einmal das Verhältnis der Fotografie zur Realität in den Blickpunkt zu nehmen, da, wie ausgeführt, Fischer die autonome und von ihm im vorhinein entwickelte Bildidee gezielt in Widerspruch zur Abbildungsfunktion der Fotografie stellt; ein Widerspruch, der in den Überblendungen von Innen- und Außenraum der ›Kathedralen‹ im übrigen noch entschiedener zugunsten des Bildes ausgeführt wird. Der Künstler berührt damit nicht nur in grundsätzlicher Weise die Frage nach der Autonomie der Kunst, sondern reflektiert vielmehr die gegebenen Antworten. Hier konnte sich zwar die Kunst insbesondere der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von jeder bloß dienstbaren Funktion einer Wirklichkeitsabbildung befreien, bezog jedoch ein wesentliches Merkmal ihrer Autonomie aus der unterschiedlich formulierten, aber gleichermaßen mißverständlichen Behauptung, selbst Wirklichkeit zu sein. Die Entdeckung der Materialität des Kunstwerkes als Bedeutungsträger etwa durch Max Ernst oder Kurt Schwitters und deren kritische Brechung bei Fontana und Burri, das Ausgreifen in den Raum des Betrachters bei Rauschenberg, Flavin oder Judd sowie die Idee der sozialen Plastik bei Joseph Beuys etablierten die Kunst zwar als eigene, mit verschiedenen Lebenswirklichkeiten kommunizierende Größe. Die althergebrachte und bis heute unauflösbare Differenz zwischen Wirklichkeit und Bild trat dabei allerdings als Reflexions- und/oder Projektionsfläche zunehmend in den Hintergrund.

Roland Fischer ist jedoch nicht bereit, darauf zu verzichten. Für ihn ist genau diese Differenz die Bruchkante, an der das Staunen über die Welt, über das Ich und das Andere (oder genauer: über das Bild, das wir uns nur von dem anderen machen können) nicht nur seinen Ausgang nimmt, sondern zugleich auch seinen Ausdruck findet. Sie ist mithin erkenntnis- theoretische Chance und zugleich Beschränkung etwa im Sinne des auf Wunsch des Künstlers zitierten Jacques Derrida, insofern die intellek- tuelle Durchdringung der Welt ihre Grenze nicht in der Unendlichkeit der gegenständlichen Erscheinungen, sondern in der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Sprachmächtigkeit oder dem formenden Ausdrucksvermögen findet.

So klingt es durchaus nicht mehr paradox, wenn festzuhalten ist, daß die Realität bei Roland Fischer nicht ohne die Autonomie des Bildes zu denken ist. Denn gerade im Bewußtsein der engen Verknüpfung von Gegenstand und Bild ist anzunehmen, daß jedes Sehen bereits Form ist und ohne Form jedes Sehen einsichtslos bleiben muß. Mehr noch aber als Malerei und Skulptur, denen selbst die Flucht ins Gegenständliche offensteht, ist es die Fotografie, welche die Differenz zwischen der Wirklichkeit (die sie abbildet) und dem Bild (das sie ist) härter und unausweichlicher formuliert; eine Eigenschaft, die Roland Fischer seinen Werken entschieden und kompromißlos zugrundelegt.

Die Ergebnisse, die der Künstler mit dieser Haltung erzielt, verwundern, beeindrucken, verstören oder irritieren. Seine Fotografien sind, wie gesagt, Ausdruck einer vorgeprägten Bildidee und zugleich ohne verbürgte Realität nicht denkbar. Und sie eröffnen damit etwa dem Porträt eine Dimension, die über die Dokumentation der individuellen Identität hinaus den Menschen noch in der Einsamkeit seiner Existenz sichtbar werden läßt. Und so wird auch noch in den ›Kathedralen‹ eine Art materieller Spiritualität sichtbar, indem die machtvolle Demonstration der Architektur nach außen mit der inneren Dramaturgie des Mysteriums zu einem komplexen Wirkungsschema verwoben wird; Innen und Außen, objektive Manifestation und subjektive Empfindsamkeit, Individuum und Kontext werden in einen Spannungsbogen eingebunden, der über die bloße Erscheinung hinaus nach Grundsätzlichem fragen läßt.

Jüngste Werke sind hier die Kollektivporträts, die Anlaß und Nukleus der Ausstellung sind. Während einer Reise 1997 nach China stellte sich für den Künstler die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kontext radikal neu. Unter dem Eindruck einer Massengesellschaft, die sich jedem europäischen Maßstab entzieht, folgte Roland Fischer zum ersten Mal jedoch nicht einer vorgeprägten Bildidee, sondern suchte nach einer präzisen Formulierung dieses gleichermaßen fotografischen wie soziologisch-philosophischen Problems aus der Erfahrung des gesellschaftlichen Alltags.

In den großformatigen Fotografien sind je 450 Einzelaufnahmen zu einem großen Tableau montiert, jede Person mit dem jeweiligen Namen kenn- zeichnend. Verbindendes Motiv ist dabei die Zugehörigkeit zu einer präzise bestimmbaren gesellschaftlichen Gruppe. Neben den Studenten einer Eliteuniversität in Beijing, deren Kollektivporträt als erstes entstand, sind Werke mit Stahlarbeitern, Bauern und Soldaten der Volksbefreiungsarmee fertiggestellt.

Zu den individuellen Porträts tritt somit ein soziologisches Gefüge, welches für die chinesische Gesellschaft in ebendem Maße konstitutiv wie für das Individuum bestimmend ist. Da die vier Gruppen nach chinesischem Selbstverständnis Säulen der kommunistischen Gesellschaft sind, ist deren Mitgliedschaft für den einzelnen von prägender Verbindlichkeit. Der Prozeß der Individuation einerseits und gesellschaftliche Determination andererseits, Freiheit und Bestimmung treffen mithin in diesen Tableaus in größtmöglicher Schärfe aufeinander.

Die Kollektivporträts scheinen somit eine erste Summe im Schaffen des Künstlers zu ziehen. Roland Fischer ist allerdings weit davon entfernt, Paradoxa und Widersprüche zu lösen oder versöhnlicher zu gestalten. Schließlich liegen diese seinen Sujets wie seinen Bildideen und letztlich seiner Haltung zur Welt zugrunde; naheliegend ist es daher, sie einfach darzustellen. Nur die ruhige Schönheit seiner Werke könnte vielleicht über die Brüche von Wirklichkeit und Bild, Individuum und Kontext, Freiheit und Bestimmung hinwegtrösten, wären wir ihr nicht längst entwöhnt – ja, stünden wir ihr nicht mißtrauisch gegenüber. So wirkt auch sie irritierend. Aber das ist mit Blick auf die Arbeit Roland Fischers kein Widerspruch.

 

Dr.Joachim Kaak ist ein deutscher Kurator und Leiter der Neuen Pinakothek in München

 

1 Roland Fischer im Gespräch mit Norbert Bauer, in: Ausst. Kat. Roland Fischer, Kunstbunker Nürnberg. Forum für zeitgenössische Kunst 1995, S. 34.

2 Santiago B. Olmo, Roland Fischer. The Portrait of Architecture, in: Roland Fischer. Façades on Paper 2001. A portfolio of eight photographic screenprints, Durham/Pennsylvania: Durham Press 2001, o. S.