Rosa Olivares 2003 german

 
Die Mystik der Oberflächen
 
Rosa Olivares

 
Ce qu’il y a de plus profond dans l’homme c’est la peau
(Das Tiefste im Menschen ist die Haut) Paul Valéry
 

Als Folge ihrer direkten Einwirkung auf die Oberfläche der
Dinge scheinen sich die für die Fotografie gültigen Parameter
zwischen Beschreibung und Dokumentation zu bewegen. Diese
charakteristische Beziehung zur Realität und dem Erscheinungs-
bild der Dinge hat sicher dazu beigetragen, dass die Bedeutung der
Fotografie als künstlerische Disziplin in den letzten Jahrzehnten
ständig an Bedeutung zugenommen hat. Die Rückkehr zur figürlichen
Darstellung, zur Präsenz des Körpers, zum Narrativen und insbeson-
dere zu den Gattungen des Porträts und der Landschaftsmalerei
erscheint geradezu wie ein historischer Rückgriff, der dem Menschen
und seinem Umfeld wieder einen zentralen Platz in der Schöpfung
zuweist. Gleichzeitig tritt somit die Bedeutung der fotografischen
Sprache als autonomes Medium im Rahmen des Kunstschaffens der
Gegenwart verstärkt in den Vordergrund.

Das gesamte Œuvre Fischers setzt sich mit Menschen und ihrer
Umgebung auseinander, immer aus einer indirekten Perspektive
betrachtet. Das was man sieht, verbindet die Erscheinung und jene
Räume – reale oder fiktive Orte -, in denen ihre Spiritualität, ihr verbor-
genes Ich wohnt. Man könnte sagen, dass sich das Werk Fischers ins-
gesamt mit der Spiritualität der Gesichter und der Formen beschäftigt.
Seit den zwischen 1984 und 1987 entstandenen Porträts der Nonnen
und Mönche lässt sich die künstlerische Entwicklung Roland Fischers als
eine ständige Wechselbewegung zwischen dem Körper und der Archi-
tektur beschreiben, zwischen der menschlichen Gestalt und dem Ort.
Aber sowohl für das Individuum wie auch für das Gebäude gilt, dass der
von Fischer gewählte oder besser gesagt, der künstlerisch bearbeitete
Aspekt ein persönliches Porträt ergibt, zwischen Wirklichkeit und Unbe-
wusstem, zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen.

Die Fotografie hat sich als nützliches Instrument erwiesen, mit des-
sen Hilfe wir unser Wissen über unsere Umgebung und uns selbst
erweitern und perfektionieren können. Das Porträt, das Landschaftsbild
bilden Teile einer Collage, aus der eine verworrene und vor allem zer-
splitterte Realität entsteht. Wer sind wir und wie sind wir beschaffen,
wo leben wir, wo beten wir – es sind die von der Welt des Glaubens, der
Religion und einer Spiritualität unauslöschlich geprägten Mythen und
Symbole einer Kultur, die winzige Zeichen, Spuren und Fährten hinter-
lassen hat, denen der Künstler überall dort nachgeht, wo sie Gestalt
annehmen, in Tempeln und Kathedralen ebenso wie in einem Blick oder
einem Mienenspiel. Wer sind wir und wie sind wir beschaffen, wo befin-
den wir uns, warum kommen und gehen wir… Fragen, die selten eine
Antwort finden und die sich notwendigerweise immer wieder von neuem
stellen, obwohl wir im Voraus wissen, dass es weder eine Antwort gibt
noch eine denkbare Antwort uns zufrieden stellen würde.
 
Nuns and Monks
 
Die Serie der Porträts von in strenger Klausur lebenden Nonnen
und Mönchen, die Roland Fischer in den achtziger Jahren ausführte,
markiert in seinem Schaffen den Beginn einer Phase, in der bereits
mehrere Facetten seines Schaffens aufscheinen, die sich bis in die
Gegenwart verfolgen lassen. Eine von ihnen ist das Porträt, wobei der
Porträtierte absoluten Vorrang hat und jedes Element der Außenwelt,
jedes Detail des Ambiente eliminiert wurde, einschließlich aller Infor-
mationen, die neben dem Gesicht Aufmerksamkeit beanspruchen
könnten. Nur das Gesicht und die Augen sind von Bedeutung, denn sie
öffnen das Tor zu einer abstrakten und komplexen inneren Welt. Der
Blick der Augen verschafft uns den Zugang zu einem unbekannten Ort,
an dem absolute Stille herrscht und die Gefühle und Gedanken zu
visuellen Abstraktionen werden, sich das Rätsel der Existenz eines
Individuums nur erahnen lässt. Um ihm näher zu kommen, begibt sich
Fischer zu verschiedenen Klöstern in Frankreich und Deutschland, eine
Reise, die manchmal von den jeweiligen Umständen oder vom Zufall
bestimmt scheint, die jedoch noch kein Ende gefunden hat und ihn
durch die ganze Welt führt, auf der Suche nach Gesichtern, Blicken, die
er festhält, Oberflächen, die er mit der Kamera analysiert.
In diesen Klöstern, in denen die Mönche in strenger Abgeschie-
denheit leben, war Fischer eine ungewöhnliche Erscheinung, man
erlaubte ihm, Männer und Frauen zu porträtieren, die jahrelang nie-
mand aus der Welt außerhalb des Klosters zu Gesicht bekommen hat-
ten, Menschen, von denen wohl keine weiteren Porträts existieren.
Menschen, von denen wir nichts wissen, außer dass sie ein Ordensge-
wand tragen, in völliger Abgeschiedenheit leben, dass sie erwachsen
sind und vermutlich weise. Wir kennen weder ihre Namen noch ihr
Alter genau, noch die Gründe, die sie vor vielen Jahren bewogen
haben, sich von vielerlei Fesseln zu lösen und sich aus der Welt zu ver-
abschieden und den Rest ihres Lebens in Einsamkeit und Schweigen zu
verbringen. Ihre Gesichter, manchmal lächelnd und selig, manchmal
traurig und verbittert, erzählen uns von einem Leben, das wie eine
defekte Uhr auf einmal stillstand, erzählen uns auch von Wandlungen
zu Einsichten und Verinnerlichung. Nicht in allen Fällen leuchtet dieses
mystische Strahlen auf, das uns plötzlich unerwartet blendet. Es
geschieht nur selten, aber mit Sicherheit suchen wir unaufhörlich
danach. Es handelt sich nicht um eine systematische Suche, sondern
um unerwartete Entdeckungen. Wie in einem Laboratorium, in dem
nach jahrelangen Experimenten plötzlich eine Unachtsamkeit zur Ent-
deckung führt, arbeitet die Kamera des Fotografen systematisch
immer auf die gleiche Weise, aber plötzlich, in ganz seltenen Fällen,
geschieht das Überraschende und das Mysterium tritt in Erscheinung.
Aus dieser Zeit gibt es zwei Serien, in der einen sind die Nonnen
und Mönche in Halbfigur dargestellt, sodass ihre Gewänder einen
bedeutenden Teil des Bildes einnehmen. So als handle es sich um Bil-
der eines modernen Zurbarán, tragen die stoffliche Qualität, das
Schwarzweiß der Gewänder, die Körperformen und die Gesten zu einer
klaren und ausgewogenen Komposition bei. Zu den besonders bedeu-
tenden Porträts, die für die folgenden Schaffensperioden als repräsen-
tativ gelten können, zählen die Großaufnahmen: nur die Gesichter,
frontal, eingetaucht in einen weißen Raum, der nur durch die Hauben
oder den Stoff der Kapuzen begrenzt wird, und dort, in diesen Gesich-
tern, in denen die Falten etwas anderes bedeuten als von der Zeit
hinterlassene Spuren, vor allem dort, wo die Augen sich in einen
Schlüssel verwandeln, der völlig unbekannte Welten erschließt, zu
denen wir niemals wirklich Zugang finden. Sie schauen uns an und
sprechen zu uns aus einer unüberwindbaren Distanz. Und in dieser
Stille, in der die Porträts zu sprechen beginnen, fangen wir an zu
begreifen, dass es vielleicht nicht so sehr auf das Gesicht ankommt,
sondern auf diesen Funken in den Augen, der uns als magische Erleuch-
tung erscheint und uns eine Ahnung von einem Leben vermittelt, so völ-
lig anders geartet, dass wir es uns nicht vorstellen können.
 
Los Angeles Portraits
 
Das Porträt it zweifellos das Genre, das uns am meisten über die
Personen und die Zeit, in der sie gelebt haben, vermittelt. In der
Geschichte der Malerei sind es vor allem die Porträts, die von der Kul-
tur der Zeit, dem gesellschaftlichen Status, von politischen und histori-
schen Faktoren erzählen. Auch in der Geschichte der Fotografie lassen
sich solche Bezugspunkte finden und es gibt dafür viele Beispiele. Die
gegenwärtige Fotografie dagegen zeichnet sich durch die absolute
Kälte der Porträts aus. Manchmal sind es Parodien, Ersatzpersonen
oder solche die eine Stellvertreterfunktion haben, wie die Porträts von
Cindy Sherman oder von Laurie Simmons, aber die Darstellung eines
konkreten Individuums, dessen gesellschaftliche Identität völlig ver-
fremdet wird, taucht hier zum ersten Mal in der Geschichte auf. In den
Porträts von beispielsweise Thomas Ruff oder in diesem konkreten Fall
von Roland Fischer wissen wir nichts über die Personen. Sie weisen
außer physischen keine weiteren Details auf. In der Serie der Nonnen
und Mönche ist lediglich klar, welche Stellung sie einnehmen, wer sie
sind.…. ist es wirklich klar? Wissen wir wirklich etwas über sie, abge-
sehen davon, dass es sich um Mönche handelt, die in strenger Klausur
leben? Wir wissen nichts über sie.
Die Fotoserie, die Roland Fischer zu einem der herausragenden
Fotografen der neunziger Jahre machte, brachte eine neue, als L. A.
Portraits bezeichnete Gattung hervor. In der Mehrzahl Porträts von
Frauen mittleren Alters, die sich bis zu den Schultern im Wasser befin-
den. Die Gesichter sind wiederum nur von einem einzigen Element
umgeben, dem blauen Grund des Wassers im Schwimmbad. Er hat die
Serie später durch jüngere Frauen und sogar einen jungen Mann
erweitert, aber sie bezieht ihre Wirkung im Wesentlichen aus den
Gesichtern reifer Frauen, die uns vom Wasser aus kühl betrachten.
Das Schwimmbad, das Wasser haben hier eine doppelte Funktion als
Bezugsrahmen und als visuelle Strategie. Einerseits sind sie der Rah-
men für die Nacktheit der Frauen, ihre Gesichter als riesige Großauf-
nahmen, inmitten von reinem Blau, das eine ungewöhnliche Schönheit
verleiht, andererseits spricht dieser Bezugsrahmen davon, dass es
sich um Damen der besseren Gesellschaft von Los Angeles handelt,
Besitzerinnen großer Anwesen mit Schwimmbad, in Begleitung ihrer
Freundinnen und Töchter. Deshalb erzählen uns diese Gesichter viel
mehr, als man anfangs vermutet. Selbst wenn wir auch diesmal weder
ihre Namen, ihr konkretes Alter, ihre individuellen Lebensumstände
erfahren, wird hier deutlich, dass Fischer uns Porträts zeigt, die fast
schon als Analyse ihres Innenlebens zu verstehen sind. Traurigkeit,
Einsamkeit, ein seltsames Gefühl der Belanglosigkeit ausgehend von
einem neutralen Raum überwältigen uns. Möglicherweise trägt die
Vorstellung, ins Wasser des Schwimmbads eingetaucht auf das Ende
der Aufnahmen warten zu müssen, dazu bei, dass Raum und Zeit auf-
gehoben sind, aber dieser physischen Erfahrung entspricht ein psycho-
logischer Gedanke. Es geht um Frauen, die viel gesehen und erlebt
haben, die Spuren der Zeit sind auf ihrer Haut deutlich zu erkennen,
aber auch diesmal sind es wieder die Augen, die uns mehr über ihre
Stimmung, ihre Gefühle und ihre seelische Verfassung verraten.
Die Gesichter sind die Fassaden der Individuen, mehr als die Kör-
Der verdeutlichen die Gesichter die Haltung der Person. Fischer ver-
sucht, kleine Details in diesen überdimensionierten Porträts zu gestal-
ten. Die gleiche Methode verwendet er später bei den Bildern von
Gebäuden, die Vergrößerung des Fragments, eines Teils anstelle des
Ganzen, um uns mit etwas anderem als der mehr oder weniger schö-
nen, mehr oder weniger interessanten Oberfläche zu konfrontieren. Er
sucht den Widerhall von Traurigkeit oder Sehnsucht, von Neugier, der
in den Augen der Frauen von Los Angeles zum Ausdruck kommt und er
sucht in den Gebäuden etwas anderes als Stein oder Glas. Wir werden
Zeugen einer Annäherung an die Innenwelt der Personen und Kultu-
ren, der Religionen und gegenwärtigen Gesellschaften.
 
Die Zwischenserien
 
Bevor er sich dem Thema der Kathedralen zuwandte, arbeitete
Fischer an zwei Serien, die vergleichsweise wenig bekannt sind und
auch selten ausgestellt wurden. Es handelt sich um zwei Arbeiten, die
im Vergleich zu seinem sonstigen Werk ganz anders geartet sind. Sie
unterscheiden sich in jeder Hinsicht, haben einen mehr narrativen
Charakter und entfernen sich von der bereits erwähnten permanenten
Untersuchung der Oberfläche. Es handelt sich um Bildfragmente, die
aus Videofilmen herauskopiert wurden und ein kleineres Format auf-
weisen als sonst bei Fischer üblich. Obwohl Bilder aus dieser Serie fer-
tiggestellt wurden und in einem Katalog erschienen, führte Fischer das
Projekt nicht fort, da es sich nur schlecht in seine systematische Arbeit
einfügen ließ.
Etwas Ähnliches passierte wenig später mit einer Serie von Arbei-
ten, bei denen er eine weibliche Figur in eine virtuelle architektonische
Umgebung integrierte. Obwohl aus dieser Serie kein einziges Bild ver-
öffentlicht wurde (ich kenne die Bilder aus einer Serie von Reproduk-
tionen, die der Künstler mir in den neunziger Jahren zusandte), war ich
immer der Überzeugung, dass in dieser Serie sehr interessante neue
Elemente andeutungsweise zu erkennen sind. In aus Flächen und Far-
ben konstruierten architektonischen Szenarien, Fluchtpunkten und
Winkeln aus einer Computersimulation platziert er nackte Frauenkör-
per in extremen Stellungen, perspektivischen Verkürzungen und ande-
ren symbolbefrachteten Positionen, die beim Betrachter bestimmte
Assoziationen auslösen. Die Verbindung dieser kalten Architekturan-
sichten mit den warmen entblößten Frauenkörpern lässt ein eingenar-
tiges und anziehendes Phänomen entstehen, das Gedanken von Ein-
samkeit, Verlassenheit, Ausschweifung und Exhibitionismus auslöst,
eine bestimmte Gefühlswelt, von der die Frauen umgeben sind.
Auch diese anonymen Porträts betonen den Gesichtsausdruck als
zentrales Element der Komposition, in der Absicht, eine visuelle
Abstraktion zu schaffen, bei der das figürliche Motiv zu einer konzep-
tuellen Instanz wird. Durch die Verbindung des Hintergrunds mit jenen
zentralen Motiven schafft er eine abstrakte Realität.
Zweifellos war Fischer auf der Suche nach etwas, das schließlich
in den Bildern der Kathedralen Gestalt annahm.
 
Façades
 
In den neunziger Jahren begann er an der Serie der Gebäudefas-
saden zu arbeiten. Wenn man von Daten und von Serien spricht, muss
man wissen, dass die verschiedenen Serien sich zeitlich überlagern
und sich parallel zueinander in einem Jahrzehnt entwickeln, es ist
außerdem möglich, dass in einem bestimmten Jahr aufgenommene Bil-
der erst Jahre später fertig gestellt und veröffentlicht werden.
Die Fassaden werfen eine Reihe von Fragen auf, die sich bereits in
früheren Arbeiten andeuteten, jetzt aber zum zentralen Thema wer-
den, weil Fischer mittels der Fassaden der Gebäude geradezu maleri-
sche Effekte hervorruft. Die Ähnlichkeit – natürlich oder künstlich her-
vorgerufen – der von Fischer ausgewählten Fassadenfragmente mit
abstrakten, konstruktivistischen, rationalistischen oder kinetischen
Bildern ist nicht nur augenfällig, sondern verweist auf vielfache Bezie-
hungen zwischen Architektur, Malerei und Fotografie. Die Ausdrucks-
kraft der Farbe und der Abstraktion sind in dieser Serie von wesent-
licher Bedeutung, die, wie bereits gesagt, als psychologische Porträts
zu verstehen sind. Die Arbeitsmethoden, die Fischer sowohl hier wie in
seinen Porträts anwendet, ähneln sich und basieren auf dem Versuch,
die Wirkung von Transparenz zu erzielen und durch die Fragmentie-
rung des Körpers einzelne Teile besonders hervorzuheben, die für den
Künstler von besonderem Interesse sind. Er sucht nach dem Wesens-
kern, diesem manchmal winzigen Fragment, in dem die Realität des
Gesamtkonzepts konzentriert erscheint.
Die Aufnahme des Motivs aus größter Nähe, die Herauslösung des
Fragments aus seinem Kontext sowie der Gebrauch von Farbe und
geometrischer Linien versetzen das Bild in eine abstrakte Welt, ohne
irgendeinen Bezug zu dem Gebäude als Ganzem, als Konstruktion eines
Raums, als bewohnbarem Ort. Es bleibt nur das Bild, man kann nicht
einmal von Fotografie sprechen, sondern von einem gemalten Raum.
Die Fotografie greift also zwei Konzepte wieder auf, die ihr ursprüng-
lich fremd sind: die Malerei und die Abstraktion. Und wir sprechen hier
nicht von der Übernahme linguistischer Begriffe, sondern von einer
klaren zeitlichen Kontinuität der Prämissen, Definitionen und Ziele, die
von einer Sprache in die andere übertragen wurden, wobei die ihnen
eigenen Charakteristika erhalten blieben, Definition und Konzept sich
jedoch verändern können.
 
Cathedrals
 
Mit dieser Serie gelang Roland Fischer von neuem der Erfolg, den
er bereits mit seiner Serie der Los Angeles Portraits erzielt hatte.
Innerhalb seines Œuvres wurden diese beiden Werke von der Kritik und
dem Kunstmarkt am höchsten bewertet. Er beginnt mit der Arbeit 1996,
macht Bilder aus den verschiedensten Perspektiven, bearbeitet sie spä-
ter am Arbeitstisch und am Computer – einem unverzichtbaren Arbeits-
mittel der meisten Fotografen. Er reist, ein wichtiger permanenter Fak-
tor seiner Aktivitäten, vorwiegend durch Frankreich und Deutschland,
und fotografiert die emblematischsten Kathedralen von Europa. All-
mählich bezieht er auch die sakralen Stätten anderer Religionen in
seine Arbeit mit ein und er bereist auch Vietnam, wo er am Tempel des
Cao Dai arbeitet, später setzt er die Arbeit an einzelnen katholischen
Kathedralen auf dem Pilgerweg von Santiago de Compostela fort (León,
Burgos, Jaca, Pamplona, Santiago de Compostela, Lugo…).
Die Art und Weise der Darstellung sakraler Räume unterscheidet
sich absolut von allen früheren Arbeiten. Durch die Uberblendung ver-
schiedener Ebenen, verschiedener Ansichten, wobei er die äußere Fas-
sade und die Innenräume überlagert, schafft Fischer ein Bild, das kon-
zeptuell ähnlich wie die Skulptur Innen- und Außenansicht zu einer Ein-
heit verbindet. Er zeigt die Fassade und das Herz des Gebäudes, seine
machtvolle äußere Erscheinung und sein zart gegliedertes Innenleben.
Er verwendet von neuem die Methode der Fragmentierung und der
Vereinigung, der Überlagerung von Bildern, um auf diese Weise das
Thema zu vertiefen, um über die scheinbare Banalität der Oberfläche
hinaus zu gehen und Territorien zu betreten, die eher ins Reich der
Psychologie gehören und in denen Personen und Gebäude auf die glei-
che Art und Weise behandelt werden.
China und Collective Portraits
Seine häufigen Reisen in den Orient, vorwiegend nach China, aber
auch zu anderen Völkern, deren Auffassung von Religion sich wesent-
lich von der europäischen unterscheidet, haben ihm neue visuelle
Erfahrungen und Strategien vermittelt. Dieser Weg führt zur Arbeit an
den Porträts bestimmter Gruppen von Menschen. Studenten, Solda-
ten, Belegschaften von chinesischen Unternehmen.. und heute Pil-
gern auf dem Weg nach Santiago. Das Konzept besteht darin, jede
einzelne der beteiligten Personen zu porträtieren, beispielsweise
jedes Mitglied eines bestimmten Unternehmens oder jeden Soldaten
eines Regiments und so fort – später wird aus allen individuellen Por-
träts ein großes Porträt erstellt, von Individuum zum Kollektiv, vom
Fragment zum Ganzen.
 
Der Weg nach Santiago
 
Bei dieser Arbeit handelt es sich um einen konkreten und begrenz-
ten Auftrag, den das Centro Galego de Arte Contemporáneo kurz vor
den Feiern zu Beginn des neuen Pilgerjahrs an Roland Fischer vergibt:
Er soll die Kathedralen und Kirchen des Pilgerwegs nach Santiago por-
tratieren, die durch Jahrhunderte hindurch für den Gottesdienst und
die Beherbergung der Pilger bestimmten Stätten von neuem besuchen.
Aber dabei die Protagonisten des Jakobswegs nicht außer Acht lassen:
die Pilger. Hunderttausende Menschen machen sich auf den Weg, um
Vergebung zu erlangen, sie pilgern in jedem heiligen Jahr nach Santi-
ago, jedes Jahr beschreiten Scharen von Menschen den – immer offe-
nen – Weg, Menschen jeden Alters, aus allen Schichten der Gesell-
schaft und unterschiedlichster Herkunft.
Bei diesem Projekt verbindet Fischer seine mittlerweile traditio-
nelle Technik, die man von seinen Räumen der Kathedralen bereits
kennt, mit der neuen Methode, die er zum ersten Mal auf einer seiner
Reisen nach China angewandt hat: Das Bild eines Kollektivs. Er porträ-
tiert jeden einzelnen der ein tausend und fünfzig Pilger und vereinigt
alle diese Porträts zu einer einzigen gigantischen Fotografie, auf der
jedes Gesicht einen Namen trägt. Aber die Fotografie hat uns gezeigt,
dass Daten nicht immer nützliche Informationen vermitteln, ebenso wie
uns ein Gesicht zunächst nichts Konkretes sagt. Von diesen tausend und
fünfzig Pilgern wissen wir nur, dass sie durch ein Band verbunden sind:
durch die Notwendigkeit, einen bestimmten Ort zu erreichen, durch die
Suche nach einer mystischen Erfahrung, und durch ihr Bemühen, sich
auf einem gemeinsamen Weg zu vereinen – eine Flut von Menschen,
von einem Glauben erfüllt und mit einem einzigen Ziel. Ihre Namen
erzählen uns nicht viel mehr, auch ihre Herkunft spielt keine große
Rolle. Notwendig und wichtig ist nur ihre Präsenz auf diesem Porträt.
Roland Fischer gehört keiner der deutschen Schulen der Fotogra-
fie an, was nicht ausschließt, dass man in seinem Werk vereinzelt sehr
deutlich die Merkmale der zeitgenössischen deutschen Fotografie
erkennen kann, Merkmale einer Art Akademie der internationalen
Fotografie, die authentische Paradigmen in der Entwicklung der foto-
grafischen Sehweise darstellen: die seriellen Arbeiten, die großen For-
mate, die Isolierung des Themas, die Nüchternheit in der Behandlung,
der Rückgriff auf die figürliche Darstellung, die fast typologische Klas-
sifikation des Porträtgegenstands, wodurch die Bereiche von Kunst
und Dokumentation sich annähern. Das sind einige der deutlichsten
Stilmerkmale, die man bei einer Analyse des Werks von Roland Fischer
zu überprüfen hat. Unerlässliche Daten und Kommentare. Zweifellos
gibt es noch weitere Konzepte, andere Ideen, die vielleicht noch inter-
essanter wären und mit deren Hilfe man zu einem noch tieferen Ver-
ständnis nicht nur seiner Werke, sondern auch seines Vorgehens
gelangen könnte.
Die Suche jenseits der Oberfläche, mit deren Hilfe sich etwas in
der Materie Verborgenes entdecken lässt. Die Notwendigkeit, sich in
die Konzepte der Abstraktion und das Erbe der konzeptuellen Malerei
zu vertiefen, aber vor allem die Suche nach der Seele der Menschen
und der Dinge. Die Notwendigkeit, zum psychologischen Gehalt vorzu-
dringen, der beim Porträt offenkundig ist und der bei den Bildern von
Gebäuden eine vorurteilsfreie Annäherung erfordert, um zu erkennen,
dass auch sie eine Art von psychologischen Porträts darstellen, nicht
nur eines Ortes, sondern der Gesamtheit der Menschen, die sie mit
Gefühlen und Tiefe beladen haben: Orte bewahren die Aura derjeni-
gen, die ihre Luft geatmet haben, und in den Bildern der Kathedralen
wird die Suche nach dieser mystischen Abwesenheit spürbar.
Das Geheimnis eines Ortes, jenseits eines konkreten Raumes,
kann mystische Erfahrungen vermitteln – wie der Morgentau, der sich
auf eine Oberfläche legt. Hier ist etwas vom Wesen der Menschen, von
Hunderten, ja Tausenden von konkreten und vereinzelten Individuen,
die einen Ort besucht haben, an diesen Oberflächen haften geblieben,
im Inneren der heiligen Hallen, die Jahrhunderte lang dem Gebet, dem
Gespräch eines jeden mit seinem Gott dienten. Alle diese Gebete,
Anrufungen, Gesänge und Rituale leben in den Räumen weiter wie im
Unendlichen, wo sich ein und dieselbe transzendente Handlung ewig
wiederholt.
Bekannt ist der Topos, dass der Fotograf denjenigen, den er foto-
grafiert, der Seele beraubt, man könnte aber auch sagen – besonders
in diesem speziellen Fall
– dass die Fotografien letzten Endes die
Innenwelt des Fotografen eingefangen haben.
 
Rosa Olivares
 
published in: Roland Fischer „CAMINO“, CGAC Centro Galego de Arte Contemporanea 2003
 
Rosa Olivares is a Spanish writer, critic and curator and Editor of the Art Magazine EXIT