Roland Fischers Logik der Sensation – Portraitfotografie
Sarah K. Stanley
2012
„Trotz der Erscheinungen gibt es keine Geschichte mehr zu erzählen; die Figuren werden ihrer Reprä- sentationspflicht befreit und treten direkt in Beziehung mit einer Folge himmlischer Sensationen.“
„Der gesamte Körper wird zum Nervengeflecht.“ Gilles Deleuze in Francis Bacon. Logik der Sensation1)
In seinem Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben aus dem Jahr 18742 erklärt Nietzsche, Glück könne sich nur durch die Macht des Vergessens oder durch das „Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“, einstellen. In ähnlicher Weise drängen Roland Fischers Porträts ihre Objekte, „auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend“ und „auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht“ stehen zu bleiben. Nietzsche erkannte natürlich an, dass es unmöglich ist, ohne historisches Gedächtnis zu leben; ein solches Paradies bleibt der wilden Natur vorbehalten. Nietzsches – und Roland Fischers – Antwort ist, durch das Aufgehen des Individuums in größere Kräfte, seien sie natürlich oder künstlerisch, Zugänge zu dieser Unmittelbarkeit zu finden. Roland Fischers mannigfaltige konzeptuelle Methoden, wie er sie im Portrait anwendet, liefern Hinweise auf jenen Zustand reiner Sensation. Jede Serie reicht vom großformatigen Portrait einer Einzelperson bis zur Sammlung polaroidgroßer Portraits in großen Rastergittern, wie die chinesischer Offiziere oder manchmal auch flüchtiger Gruppierungen, etwa von religiösen Pilgerversammlungen in Santiago de Compostela oder Reisenden am Frankfurter Flughafen. Während militärische und religiöse Ordnungen traditionellerweise schlagkräftige Mittel boten, indivi- duelle Identität zu verwandeln, gelingt es Roland Fischer am effizientesten in der Pool Portrait-Reihe, kulturell und historisch geprägte Persönlichkeiten aufzulösen.
Die Los Angeles Portraits waren eine Serie, die er zum ersten Mal in Pools der Stadt entwarf, was aller- dings weniger dem Ort als den strahlenden Lichtverhältnissen dort geschuldet war. In China wurde die Reihe in Gebäuden unter Verwendung künstlicher Beleuchtung und mit chinesischen Modellen wiederholt. Für Fischer und seine Methoden der Porträtfotografie liegt das Figurative im Gesicht, es scheint wie von Intensität aufgeladen. In diesen Bildern flieht der Körper vor sich selbst, gerade so wie Deleuze die Verwendung technischer Fotografie durch den Maler zur Befreiung der Figur von der Erzählung in „Francis Bacon. Die Logik der Sensation“ beschreibt. Roland Fischers verschiedenartige Porträtreihen zeigen häufig nur den Kopf, oder in anderen Fällen auch den Schulteransatz, in Anlehnung an die klassische Büste, die später als Medium des Gedenkens Verwendung fand. Bei näherer Be- trachtung haben Fischers Porträts jedoch wenig Bezug zu den klassischen oder historischen Persönlich- keiten aus Bildhauerei oder Malerei. Näher an Bacons figurativen Porträts, manifestieren sich in Fischers Porträtfotografien skulpturale Qualitäten durch die Verbindung von Figur und Umfeld.
Man könnte anführen, dass die Porträtfotografie sich seit der Bildserie des deutschen Fotografen August Sander, in der dieser Ähnlichkeiten und Menschentypen herausstellte, mit generischen Persönlich- keitsmerkmalen befasst. Fortan war nicht mehr die individuelle Persönlichkeit, gekennzeichnet durch Interieur und Kleidung, von Bedeutung, sondern der anonyme Mensch, der nun massenproduzierte Kleidung trug, oder eine Nonne, die mit Gebetbuch im Feld spazierte. Roland Fischers Entwicklung des Gruppenporträts weist auch Bezüge zu den Porträts von Staatsmännern, Künstlern und Offizieren auf, die Gerhard Richter in seinem Atlas versammelte, seinem grafischen Kompendium, das er ver- wendete, um eine Installation von 48 gemalten Porträts zu schaffen (Atlas, Blatt 30–37, 1971). Ähnlichkeiten, die man als Artverwandtschaft auffassen könnte, entstehen durch sich wiederholende Rahmung, von Nahaufnahmen in langen Reihen. Und genau diese Unterschiede und Wiederholungen, die wesentlich für die grafischen Künste sind, infiltrieren fortwährend die Ästhetik der Malerei. Das Verhältnis zwischen Fotografie und Malerei hat sich im Laufe der Moderne gewandelt; beide be- wegten sich weg von der Zielvorgabe strikter Repräsentation. Deleuze sagt über Fotografien, dass sie nicht Bilder von Dingen seien, sondern das Ding selbst, ein Inhalt, der sich einem im Moment der Betrachtung aufdrängt. Vielleicht malte Bacon deshalb seine Porträts stets nach Fotoaufnahmen des Modells oder nach fotografischen Porträts, denen kein ästhetischer Wert zugeschrieben wird, wie Röntgenbilder, medizinische Aufnahmen und Bilder aus Fotoautomaten, oder auch wissenschaftliche Untersuchungen, wie Muybridges Bewegungsstudien. Vergleichbar mit Bacons Malereien bergen Fischers Fotografien keinen Hinweis auf Orte und Personen und sind somit der Unbestimmtheit von gesammelten Passbildern verwandt, welche die Ausdruckskraft des Subjekts minimieren. Nichtsdesto- trotz reduzieren die Verkehrungen in den historisch konstruierten Subjekten, die Roland Fischer insze- niert, die Menschheit nicht auf Zahlen in einem Diagramm, sondern schaffen es vielmehr, die jeweiligen Wesensmerkmale zur Geltung kommen zu lassen, unabhängig davon, ob die Personen in Uniform gekleidet oder aller Accessoires entledigt sind.
„Pool Portraits“: Lebensformübergreifendes Gedächtnis
Was Roland Fischer mit seinen Porträts von vorwiegend Frauen in Swimming Pools gelingt, ist so etwas wie die Neuentstehung der menschlichen Gestalt, versetzt in seinen ursprünglichen Lebensraum. Im Gegensatz zu dem „Mann ohne Eigenschaften“, der die Porträts August Sanders bestimmt, sucht Roland Fischer nach etwas, das weitaus elementarer und biologischer ist. Der menschliche Körper selbst besteht zu 60 bis 80 Prozent aus Wasser und funktioniert als lichtempfindlicher, wahrnehmen- der Organismus. Die Figur schwebt in einem schwerelosen Zustand, beleuchtet nur vom Licht, welches durch das Wassers reflektiert wird. Der Pool wird zu einem Rahmengebilde, das die Besonderheiten der Kamera spiegelt. Rechteckig, mit Schärfentiefe, ist es architektonisch in seiner Konfiguration. Ein- tauchen, verschmelzen, wieder flüssig werden. Regungslos im Pool stehen, zum Teil bis zu den Schul- tern eingetaucht, der Atem ist die einzige Quelle von Bewegung. Die Sitzungen dauern üblicherweise 20 bis 30 Minuten, was vom beteiligten Modell ein hohes Maß an körperlicher Ausdauer verlangt. Währenddessen erzeugt die Empfindung des Schwebens im schwimmenden Körper einen Ausdruck von Glückseligkeit. Amphibischer Traum. Wenn das Posieren für ein Porträt ein Entstehen des Selbst als Bild bedeutet, ist das Foto immer nur ein Bild unter vielen. Im Gegensatz dazu fußen Roland Fischers Porträts auf anderen Prinzipien, die es zu dem einzig möglichen Porträt machen. In diesem Sinne ist es eine Rückkehr des klassischen Schönheitsbegriffs, mit der Ausnahme, dass die Modelle nie wirklich außergewöhnlich sind und stattdessen in ein Kontinuum gehoben werden, das kulturelle Schönheits- normen umwandelt. Was das fotografische Porträt bis dahin definierte, wird durch eine perfektionierte Wahrscheinlichkeit, basierend auf Variationen von Lichtmessung, neu kalibriert.
Deleuze sieht in van Gogh und Gauguin die Wiederentdecker der Porträtkunst, genauer des Farbporträts, indem wieder weite monochromatische Felder im Hintergrund hergestellt werden, die ins Unendliche reichen.3) Roland Fischer kehrt ebenso zu den dem Lichtspektrum immanenten Qualitäten und der Wahrnehmung von Farbfeldern zurück. Was den Himmel blau und nicht rot erscheinen lässt, liegt in den reflektierenden Eigenschaften der atmosphärischen Chemie begründet, hauptsächlich in Effekten, die sich von den steten Zustandsveränderungen des Wassers ableiten lassen. Im Pool sehen die Schattierungen des Wassers von Hellblau über Mitternachtsblau bis zu Schwarz eher gasförmig aus als flüssig. Eingetaucht zu sein in die Vielfalt der Farbvariationen, die den Tönen des Himmels oben und unten entsprechen, kreiert eine atmosphärische Fläche, die wissenschaftliche und religiöse Bildlichkeit miteinander vereint. Da alle Horizontlinien entfallen, ragen mathematisch hergeleitete Himmel in den Rahmen des Beckens. Die Linie des Beckenrands ist nicht sichtbar, und doch bleibt die Rahmung als Einfassung mit imaginierten Grenzen enthalten. All diese unsichtbaren Dimensionen wirken auf die eingetauchte Figur wie eine Gravitationskraft, eher fühlbar als sichtbar. Dank dieser unsichtbaren Kräfte vermögen die Charakteristika des Modells Informationen zu übermitteln, welche Abgrenzungen zwischen innerem Sein und Umgebung auflösen.
Wenn Roland Fischers Porträts Spektrallicht erkennen lassen, ist das ein Hinweis darauf, dass atmo- sphärische Modulationen eine Konzentration der „Farbsensation“ verursachen, jenen Elementen der Malerei, auf die Deleuze hinweist, „die riesigen Farbflächen, von denen sich die Figur löst – Felder ohne Tiefe oder nur mit der Untiefe des Postkubismus“4). Diese Beschreibungen lassen sich auch auf Roland Fischers Porträts übertragen: „Die Farbfelder werden figurativ und die Figuren zu Farbfeldern.“ Wie schon van Gogh und Gauguin in der Malerei, führt auch Roland Fischer einen Kampf mit dem Bild. Jegliche Rückbesinnung auf eine Gattung wie Landschaftsaufnahme oder Porträtkunst basiert notwendigerweise auf Klischees. Nach Deleuze besteht die Aufgabe des Künstlers darin, Methoden zu entwickeln, um aus den Genrebeschränkungen auszubrechen5). Das gleiche gilt für fotografische Porträts, die sich nie ganz von den Gattungen befreien können, die in Bildhauerei und Malerei verhaftet sind. Und etwas Ähnliches könnte man über das stereotype Bild der Frau sagen, wie es in der Malerei geprägt wurde. Man sollte erwähnen, dass in Roland Fischers Porträts die Frau als künstlerische Kategorie neu formuliert wird. In einem Interview sagte Roland Fischer, dass das weibliche Gesicht für seine Porträts in Pools am besten geeignet sei. Die Pool Portraits mögen wohl einige Geheimnisse über die Spezies wieder aufleben lassen, die sich aus dem Wasser entwickelt hat und nach wie vor durch das Wasser ins Leben kommt.
Wie soll man mit der Gattung des Porträts, das die Fotografie seit seiner Erfindung prägte, in neues Gelände vorstoßen? Einige seiner Strategien decken sich mit Francis Bacons. Verwende einen mono- chromen Hintergrund, um das Motiv durch den Kopf zu isolieren. Dieser Strategie folgten auch die Meister der Porträtkunst im 15. Jahrhundert, wie Jan van Eyck, dessen Modelle Turbane trugen, große Fellhüte und Kopfschmuck, um eine Art Farbfeld-Baldachin hoch über dem Kopf zu errichten. Die Rah- mung und Abgrenzung der Weichheit des Gesichts findet sich auch in den stilisierten Hüten bei Roland Fischers Offizieren. In seiner ersten Porträtreihe „Nonnen und Mönche“ entdeckte Roland Fischer die Bedeutung der Rahmung des Gesichts mit Stoffen für seine Zwecke. In dieser Rahmung der monastischen Kapuzenrobe oder in Ordenstracht wird die Identität der Nonne oder des Mönchs zurückgedrängt und den Gesichtszügen erlaubt, sich als indexalische Zeichen für Menschentypen freier zu entfalten. Mit diesen entsagenden Figuren formulierte Fischer erstmals die Befreiung von der Narration, die an persönlichen Attributen wie Kleidung, Frisur, Gestik, Ausdruck und allem Übrigem haftet, was einer Person im Porträt seine psychologische Aura verleiht. In diesem Sinne arbeitet Fischer daran, alle Elemente der menschlichen Psyche zu entfernen, die die Fotografin Cindy Sherman so sorgfältig kon- struiert, wenn sie Details verwendet, die psychologische Typen entwerfen, besonders solche, die man mit dem Kino assoziiert. Warhols Entzerrung der Persönlichkeit in seiner Film-Porträtreihe Screen Tests (1964–1966) vergleichbar, weist Fischer seine Modelle an, jeglichen Gesichtsausdruck zu ent- spannen und das Gesicht auf seine Präsenz zu reduzieren. In den chinesischen Pool Portraits richtet er den Blick des Modells auf Punkte und Vektoren, die individuelle Besonderheiten weiter mindern. Anstelle eines Porträts von einer Person wird es zu einem unpersönlichen Bewusstsein, von jeglichem menschlichen Willen befreit. So nimmt jede Frau (oder jeder Mann) in diesen Porträts den Geist des Entsagenden in sich auf und badet in ihrem eigenen emanzipierten Zustand.
„Façades“ und „new architectures“: Oberflächen, Wiederholung und Schnitt
Roland Fischers Strategie in seiner Serie von Architekturfassaden weist gewisse Ähnlichkeiten zu seinen Porträtwerken auf. Er arbeitet mit den grafischen Qualitäten architektonischer Fassaden, um Linien und Farben zu einem Muster zu verdichten, zu einem virtuellen Oberflächenkatalog. Bei dieser Ver- dichtung visueller Realität wird das Foto selbst ein objektives Artefakt anstelle einer planen Oberfläche. Derweil erscheint die feste Galeriewand, die die Fotografie hält, grenzenlos, wobei sie die architekto- nischen Abgrenzungen des Raums erweitert und ausdehnt. So wie die Figuren in den Porträts zwar an einem bestimmten Ort verwurzelt sind und doch frei zu schweben scheinen, schweben auch die Ge- bäudeeigenschaften durch die Belebung der Fassade frei. Architektur gewinnt Bewegung nur durch die Aneignung verschiedener Perspektiven und Blickwinkel. Roland Fischers jüngste Arbeit zur Architek- tur sind Konstruktionen genau abgestimmter Varianten der Dichte von Linien, Kurven, Lichtfluren und Durchgängen. Diese lassen Rhythmen entstehen, die in den Grenzen einer Fotografie aus einem einzigen Blickwinkel nicht zu vermitteln wären. Roland Fischers jüngste Arbeit ist insofern eine Wiederbelebung einiger der frühesten künstlerischen Architekturexperimente von Moholy-Nagy, dessen fotografische „Lichtkonstruktionen“ darauf abzielten, neue Designformen entstehen zu lassen. Im Unterschied zu so vielen anderen Künstlern, die direkt mit Bildern der ikonischen Architekturmoderne arbeiten, lösen Roland Fischers konzeptuelle Methoden die Ikonizität auf und entwickeln ein elaboriertes Zeichensystem für neue Architekturen. Das Ergebnis ist die beinahe vollständige Aufhebung des Gebäudes durch die holografische Zergliederung in multiple Blickwinkel, Einschnitte, Schnitte und Umkehrungen, was an die Montage im Film erinnert.
Auch lassen Roland Fischers Porträts eine gewisse architektonische Haltung erkennen. Der Winkel, aus dem das Modell den Betrachter anschaut oder wegschaut, liefert Hinweise darauf, wie und wohin das Auge des Betrachters gelenkt werden soll. Der Blick zurück, halb gedreht, wendet den Blick ab und verweist auf die Konturen des Architektonischen, Punkte und Winkel, die die Figur umschließen und definieren. Roland Fischer geht es nicht um die Idee des Raums, sondern um die Veränderung der Wahrnehmungsbedingungen, die die innere Subjektivität in eine Vielfalt des real Existierenden verwandelt. Die Kennzeichen der Begegnung eines Lebewesens mit seiner Umgebung werden in die Ent- blößung seines Substrats überführt. Die philosophisch komplexe Aufgabe, sich selbst als materielle Realität in Beziehung zu dem Ort zu denken, von dem aus man auf die Welt blickt – das ist das eigent- liche Thema von Roland Fischers Werk. Die Bilder sind präzise technische Konstruktionen, die dem Subjekt, und so auch dem Betrachter, ermöglichen, der Erzählung zu entfliehen und einen Einstieg in einen flüssigeren, offenen Wahrnehmungsrahmen zu finden.
Sarah K. Stanley
2009-2010
akademische Forschungsstelle in London
lebt in New York und Berlin als Forschungswissenschaftlerin und freie Autorin
Kuratorin und Medienproduzentin mit den Schwerpunkten Medien, Philosophie und Wissenschaft in Deutschland sowie Kunst und die Praxis der Architektur
1 Gilles Deleuze, Francis Bacon. The logic of sensation (übers. v. Daniel W. Smith), London 2003.
2 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Leipzig 1874, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1954, Bd. 1, S. 212.
3 Gilles Deleuze, s. Anm. 1.
4 Gilles Deleuze, s. Anm. 1, Vorwort.
5 Gilles Deleuze, s. Anm. 1, S. 9–10.
Sarah K. Stanley, “Roland Fischer’s Logic of Sensation: Portrait Photography” in Roland Fischer: New Photography, 1984-2012, Saarlandmuseum Exhibition Catalog, June 2012. Editions in German, English and French