Roland Fischers Fotografisches Werk und der Strukturalismus

 

Roland Augustin

2012

Die Anfänge von Roland Fischers fotografischem Werk liegen in der Zeit zu Beginn der 1980er Jahre, der Zeit nach der documenta 6 (1977), als sich die Kunstszene in Deutschland – damals noch Westdeutschland – insofern wandelte, als in der Kunst selbst die Fotografie neu erfunden wurde. Die Begründer der „Düsseldorfer Fotoschule“, Bernd und Hilla Becher, wurden in Kassel ausgestellt, und mit ihnen setzte sich eine neue Fotografie durch, die ihre Initialzündung in der Ausstellung „New Topographics“ in Rochester 1975 hatte. Es wurde eine Fotografie gefeiert, die sich durch „non-engage- ment“ und eine „non-judgemental connotation“ auszeichnete. Hier ging es um eine nachindustrielle, topografisch nüchtern registrierende und nicht-erhabene Landschaftsauffassung.

Verschiedene Fotografen haben diese Prinzipien auch auf die Darstellung des Menschen übertragen. Dazu zählt in Deutschland sicherlich Roland Fischer, in dessen Porträt-Serien die Dargestellten (wie auch bei Thomas Ruff) mit ruhigem und ernstem Ausdruck aufgenommen werden, sie sich also in Hinsicht auf ihr Temperament weitgehend neutral geben. Roland Fischer war der erste, der Porträts in Überlebensgröße produzierte und auf Ausstellungen zeigte, wie etwa im Goethe-Institut in New York, wo er bereits 1981 eine Reihe großer Porträts im Format 190 × 130 cm in einem konzeptuellen Zusammenhang ausstellte.1

Die in diesen frühen achtziger Jahren begeistert aufgenommene neue Fotografie schien eine dezidierte Wende hinsichtlich der Fotografie in der Kunst darzustellen. Insbesondere war es die geradezu doku- mentarische „Objektivität“ und Neutralität, die ihre Vorbilder nicht mehr in den Kreisen der Bauhaus- fotografie im Sinne einer Lichtgestaltung suchten, wie sie László Moholy-Nagy noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs forderte. Dieser Weg, den Otto Steinert und die Bewegung „subjektive fotografie“ einschlugen und nach dem Krieg wiederbelebten, schien nun beendet. In dem von Evelyn Weiss und Klaus Honnef bearbeiteten Band zur Fotografie, ihrer Geschichte und Auswirkung auf die Künste, der 1977 zur documenta 6 erschien, ist das Werk Steinerts bezeichnenderweise nicht vertreten, seine Rolle als Wegbereiter wird kurz im Text erwähnt.2 Seither orientierte man sich zumeist – wenn über- haupt – an fotografiehistorischen Vorbildern wie Albert Renger-Patzsch, der als Vertreter des Objekt- ivismus nun oftmals in Zusammenhang mit den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher erwähnt wird. Gleiches gilt für den ebenso als Fotograf der Sachlichkeit bekannten August Sander, der häufig im Zusammenhang der neuen Fotografie in der Gegenwartskunst erwähnt wird. Man könnte meinen, dass sich die Geschichte auch in dieser Situation auf einer neuen Ebene wiederhole. Die Arbeiten Roland Fischers werden in der Fachliteratur immer wieder mit den Ergebnissen der „Düsseldorfer Fotoschule“ in Verbindung gebracht, jedenfalls hatte er erheblichen Anteil an der programmatischen Wende in der Fotografie der Gegenwartskunst. Es sei vorweg bemerkt, dass Roland Fischer ganz ohne Zweifel auf den Boom der Fotografie in der deutschen Kunst großen Einfluss genommen hat. Es stellt sich aber ebenso die Frage, inwiefern sich seine Position von der der „Düsseldorfer“ abgrenzt.

In diesem Kontext wundert man sich über eine Bemerkung Lyle Rexers aus dem vergangenen Jahr über den im neuen Jahrtausend entstandenen Werkkomplex der „Fassaden“ Roland Fischers: „Following a strategy common to American photographers of the 1950s Fischer has deliberately decontextualized these facades […] and this can have the unsetting effect of making even a detail into a seemingly endless and overwhelming repetition.“3 Dass Roland Fischer in seinen abstrahierenden Fassaden der Architektur globalisierter Städte etwas mit Strategien amerikanischer Fotografen der 1950er Jahre4 gemein haben könnte, käme einer Position gegen den Mainstream gleich, der gerade in der Über- windung der Vertreter des fotografischen und künstlerischen Subjektivismus seine neue Identität gefunden hat. Gerade in den 1950er Jahren wurde in der Herauslösung der Motive aus ihrem realen Kontext ein subjektiv-schöpferisches Potenzial gesehen, das Abstraktionswerte erreichen könne, wie die damals aufstrebende Abstraktion in der Malerei. In Deutschland waren es vor allem die Nach- folger Steinerts, die die Tür zur Serialität über diesen Weg öffneten. Dieser Weg führte auch über den Begriff der Struktur. Für Max Weber war die Struktur noch mit einer inneren Welt identisch.5 Dies entspricht auch der Anwendung des Begriffs am Bauhaus, etwa bei Moholy-Nagy.6 Schmoll gen. Eisenwerth, Wegbegleiter Otto Steinerts auch in fotografietheoretischer Hinsicht, sprach 1952 von einem neuen Ornamentstil, der die Kunst des 20. Jahrhunderts durchwalte, und auch Strukturen waren nun für ihn nicht mehr ein Begriff, der für das Innere der dinglichen Welt zutreffe, sondern ein äußeres Phänomen wie Teerspuren, Wasserflächen usw., also Oberflächen betrifft. Insbesondere die Betonung, dass sich die neue in der Gegenwartskunst nach 1975 angesiedelte Fotografie auf nichts anderes als auf die Darstellung von Oberflächen konzentriere, unterstreicht die Neutralität wie auch die gewollte Aussagelosigkeit der Motive. Die Konzentration auf die Oberfläche ist zu einem Topos in der Kunstliteratur geworden.7 Gewiss liegt ein Grund für dieses Interesse an der inhaltlichen Leere der Fotografie darin, dass der Ursprung des Fotografischen in der Gegenwartskunst in den antikünst- lerischen Eigenschaften der Fotografie zu suchen ist. In den 1970er Jahren war die Fotografie ein Mit- tel der Attacken auf die „hohe“, d.h. autonome, auratische und moderne Kunst. Der Einzug der Foto- grafie in die Museen muss somit als eine der siegreichen Schlachten in diesem Kampf gegen die Moderne angesehen werden. Dazu musste zuvor alles „Künstlerische“ aus der Fotografie getilgt werden. Die oben beschriebenen Eigenschaften sind dieser Strategie sicher förderlich gewesen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass insbesondere die großen Formate in der Fotografie dazu dienten, den Anspruch auf einen Platz in den Museen zu signalisieren und damit dort zu wirken, wo einst die Fotografie ihre zersetzenden Kräfte auf die „hohe“ Kunst ausüben sollte. Inzwischen kann man fest- stellen, dass die Aufnahmefähigkeit der zeitgenössischen Kunst so stark ist, dass sie auch die Angriffe ursprünglich kunstferner Techniken in sich aufnehmen kann und ihre Aura sich auf letztere aus- gedehnt hat. Der Befreiung vom Künstlerischen in der Fotografie musste (zwangsläufig) auch jener subjektivistische Ansatz der 1950er Jahre geopfert werden, der die künstlerische Eignung des Mediums immer und immer wieder unter Beweis stellen musste und damit noch den modernistischen Anspruch des Künstlerischen mit der Überhöhung des künstlerisch aktiven Subjekts vor sich her trug. Dazu zählte nicht nur die Bewegung der „subjektiven fotografie“, sondern auch die stärker an objektivierenden Herangehensweisen orientierten Entsprechungen der konkreten Kunst im fotografischen Bereich, wie etwa die Kilian Breiers oder Gottfried Jägers. Mit dieser Aufarbeitung der Avantgarde-Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg brach sich dann die postmoderne Gegenwartskunst auf die oben beschriebene Weise Bahn und trug mit den Motiven des untergehenden Industriezeitalters die neue fotografische Neutralität in die Museen der Postmoderne hinein.

Roland Fischers Fotografie ist einerseits Teil dieser Entwicklung, nimmt aber andererseits eine Gegen- position dazu ein. Seine Arbeiten wurden mehrfach zusammen mit jenen Thomas Struths oder Ruffs gezeigt. Seine großformatigen Porträts der Serie „Nonnen und Mönche“ haben einerseits eine Affinität zu den Porträts von Ruff und Struth. Und auch die Fassadenfotografie sperrt sich, wie bei Ruffs Architektur- bildern, dagegen, eine Vorstellung davon zu vermitteln, was dahinter vor sich geht. Gleichzeitig ist bei Roland Fischer andererseits eine wohltuende Entkrampfung festzustellen, was das Verhältnis zu den ehemals typischen „subjektivistischen“ Gestaltungsmitteln in der Fotografie betrifft. Derartige Mittel sind in der dekontextualisierenden Wahl des Bildausschnitts, aber auch in den Montagetechniken zu finden, etwa in der Überblendung zweier Motive – in der analogen Fotografie zum Beispiel durch die Sandwichmontage, also der gleichzeitigen Vergrößerung zweier Negative (oder Diapositive).

In der Fotografie Roland Fischers werden derartige Überblendungen in den Serien „Kathedralen und Paläste“ und „new architectures“ nicht mehr analog, sondern digital vorgenommen, was aber im Ergebnis des fertigen Bildes zunächst keine Rolle spielt und durchaus an Montagen erinnern mag, wie sie etwa Otto Steinert in den 1950er Jahren anfertigte. Es fehlt bei Steinert zwar die konzeptuelle Herangehensweise, indem er nicht seriell vorgeht, denn es ging ihm vielmehr um autonome Einzelbil- der. Aber man erkennt durchaus, dass die Desavouierung subjektivistischer Techniken in der Fotografie Roland Fischers keine Rolle mehr spielt:9 „[…] In my recent project „new architectures“ I explore these phenomenon by transforming spaces/structures in a sort of cubist tradition, simultaneously repre- senting different vantage points. This result is, in a way, like a „third“ reality and may demonstrate that even in photography meaning is not limited by what is recognizable.“10 In seinem Statement bringt Fischer zwei Schlüsselbegriffe zur Sprache: Simultaneität und Struktur. Mit der ersten greift er einen Faden auf, der auf die modernistische Avantgarde des Kubismus verweist. Mit der Struktur deutet er auf einen methodologischen Begriff, der in der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Rolle in der Wissenschaft, aber auch in der Kunst spielte.

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob Roland Fischer in seiner Fotografie einen strukturalistischen Blick auf die Menschheit wirft. Einiges spricht dafür: In seinen Kollektivporträts entwickelt er eine Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, und sein Kunstwerk bildet die Struktur, d.h. es setzt die Beziehung, welche die Mehrzahl von Einzelbildern von Soldaten, Pilgern, Arbeitern oder Bauern zu einem Ganzen verbindet. In der Serie „Nonnen und Mönche“ ist es umgekehrt das Einzel- bild, das stellvertretend für einen Verbund der Einzelnen im Ganzen stehen kann. Die „Kathedralen und Paläste“ nehmen diesen Faden auf, indem sie das Innere mit dem Äußeren in Beziehung setzen. Darüber hinaus setzt Fischer universale Akzente: Die Untersuchung der Fassaden einer globalisierten Welt einerseits, andererseits der weltumspannende Charakter, der sich aus der Fortführung der „Pool Porträts“ in China äußert, einer Serie, die in Los Angeles begann. Der Künstler geht von einem Netz bipolarer Systeme aus: Innen-Außen, Subjektiv-Objektiv, Kollektiv-Individuell, Ost-West und bildet somit seine künstlerische Struktur. Seine Motive sind symbolische Entsprechungen, die Form zum Inhalt. Einer der großen strukturalistischen Denker, Claude Lévi-Strauss, äußerte sich einmal ganz ähnlich: „Wenn, wie wir meinen, die unbewusste Tätigkeit des Geistes darin besteht, einem Inhalt Formen aufzuzwingen, und wenn diese Formen im Grunde für alle Geister, die alten und die modernen, die primitiven und die zivilisierten […] dieselben sind – wie die Untersuchung der symbolischen Funktion, wie sie in der Sprache zum Ausdruck kommt, überzeugend nachweist –, ist es notwendig und ausreichend, die unbewusste Struktur, die jeder Institution oder jedem Brauch zugrunde liegt, zu finden, um ein Interaktionsprinzip zu bekommen, das für andere Institutionen und andere Bräuche gültig ist, vorausgesetzt natürlich, dass man die Analyse weit genug treibt.“11

Vielleicht ist der Zusammenhang, der hier zwischen dem fotografischen Werk und dem Strukturalismus von Lévi-Strauss hergestellt wird, auch deshalb legitim, weil Roland Fischer bereits im Jahr 1983, und damit zugegebenermaßen vor der Konkretisierung seines heute gültigen künstlerischen Ansatzes, ein großformatiges Schwarz-Weiß-Porträt des Gelehrten anfertigte und ausstellte und somit belegt ist, dass er sich mit dieser Weltsicht auseinandergesetzt hat.

Wenn auch Roland Fischers Fassaden wenig über die Gestalt des Gebäudes sagen mögen und damit die Referenz absichtlich geschwächt wird, stehen sie doch in ihrer Symbolik für eine große, weltum- spannende Einheitlichkeit bzw. Austauschbarkeit jener Bauten, die mit globalisiertem Wirtschaften in Zusammenhang stehen. Die Bedeutung von Roland Fischers Werk liegt durchaus nicht im Dargestellten, nicht im Abbild, sondern auf einer anderen Ebene, sei sie „Struktur“ oder „dritte Realität“ genannt. In diesem Punkt haben die Arbeiten Roland Fischers die Kraft zur Überwindung der Postmoderne.

 

 

Roland Augustin

1963

geboren in Wuppertal

1994

Promotion an der Universität Trier in Kunstgeschichte, Ethnologie und Politikwissenschaften

Seit 1994

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Saarlandmuseum, zuständig für die Fotografische Sammlung, später auch Koordinator der elektronischen Dokumentation

Seit 2011

Koordinator der Sammlungen des Saarlandmuseums

 

 

1 RolandFischer,Portraits.AusgewählteArbeiten1979–1983.MiteinemText von Peter Weibel: Reflexionen ausgelöst von Roland Fischers Fotografien (S. 5–7), München 1983. 2 Evelyn Weiss, Einführung in die Abteilung Fotografie, S. 7–10, hier S. 8., und: Klaus Honnef, Fotografie zwischen Authentizität und Fiktion, S. 11–27; beide Beiträge in: documenta 6, hrsg. v. Manfred Schneckenburger, Kassel 1977.

3 Lyle Rexer, Clearing. Roland Fischer and the transformation of Photography, in: Roland Fischer – photoworks 1984 – 2011. Ausst.kat. DA2, Salamanca 2011, S. 12–14, hier: S. 12f.

4 Beispielsweise Aaron Siskind mit Chicago Facade 7 oder Los Angeles 2 aus dem Jahr 1949.

5 Max Weber, Tradition and now, in: Photographic Art, Bd. III, Nr. 1, 1916, S. 11, zit. n. Michel Frizot, Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 312.

6 László Moholy-Nagy, von material zu architektur, Mainz und Berlin 1968 (1929), S. 33.

7 Julian Heynen, Oberfläche als Metapher, in: Thomas Ruff, Porträts. Ausst. kat. Galerie Mai 36, Luzern 1988. Siehe z. B. auch Boris von Brauchitsch, „… die Beleuchtung ist flächendeckend.“ Zu den Fotografien von Thomas Ruff, in: Thomas Ruff, Boris von Brauchitsch, Ausst.kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1992, S. 7–18, hier S. 15: „Zerstreut wie die Hängung ist auch ihr Inhalt. Was übrigbleibt, ist der fotografisch eingefrorene Bruchteil einer Begebenheit, eine ,reizvolle Oberfläche‘ in vergrößertem, vergröbertem Raster, noch ärmer an ergründbaren Inhalten als die Fassaden der Gesichter und Gebäude.“

8 Zum Zusammenspiel von Moderne, Museum und Fotografie siehe Doug- las Crimp, Über die Ruinen des Museums, Dresden und Basel 1996, S. 34, 37, 123, 133.

9 Dieser Trend ist beispielsweise auch im Werk von Andreas Gursky festzustellen. Auch hier sind digitale Veränderungen, d. h. subjektivistische Ein- griffe, längst akzeptiert. Allerdings gehen sie bei Gursky nicht so weit, den visuellen Charakter des Motivs zu dominieren, vielmehr dienen sie der Unterstützung des realistischen Bildes. Klaus Honnef geht davon aus, dass die digitale Fotografie eine Erneuerung des subjektiven Ansatzes bewirken könne: Klaus Honnef, Von der Realität zur Kunst. Fotografie zwischen Profession und Abstraktion, in: Deutsche Fotografie – Macht eines Mediums, Ausst.kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, Köln 1997, S. 186–192, hier S. 191.

10 Roland Fischer, Statement, in: Roland Fischer, 2011 (s.o.), S. 18

11 Claude Lévy-Strauss, Mythologica I-IV, Frankfurt am Main 1976, S. 35.

 

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