Roland Fischers Fassaden: Die Geschlossene Sprache der Architektur

 

Leyle Rexer

2014

 

Um die Kluft, die zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines Buches krakelt, mit den organischen Lettern im Inneren zu vergleichen: gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, unnachahmlich symmetrisch.

Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel (dt. Übers. Karl August Horst)

 

 

In New York gab es vor vielen Jahren ein Restaurant, dessen Wände große Schwarz-Weiß-Luftaufnahmen von wichtigen Metropolen dieser Welt bedeckten: New York, Paris, London, Buenos Aires, Rio de Janeiro, Mexiko-Stadt, Caracas, Chicago, Los Angeles. Bei jedem Besuch betrachtete ich diese Topografie urbanen Wachstums mit starker Faszination und zunehmender Hoffnungslosigkeit. Die Städte weckten in mir ein Gefühl von Pracht, doch auch die eher unangenehme Erkenntnis, dass sie einander alle ähnelten, denn die Formen der Erfahrung, die sie verkörperten, waren grundsätzlich gleichartig und gestaltet durch identische Entwicklungen. Abweichungen, die früher durch Sprache, Klima, Geschichte und physikalische Geografie befördert wurden, ließen sie nicht mehr zu. Die moderne Stadt war der Verkünder des weltweiten Kapitalismus mit vereinheitlichten Wünschen und marginalisierten Unterschieden. Dieses Phänomen hat in einer Welt, der ihr eigenes Wachstum zur Last wird, noch zugenommen. Das Überleben des Menschen ist in einem anderen System nicht mehr vorstellbar, wahrscheinlich aber auch nicht mehr in diesem. Hongkong, Beijing, Guangzhou oder Dubai ergänzen die Weltkarte der modernen Architektur, allerdings ohne ihre Ursprungsmythen. Die heutige Stadt entwickelt sich nicht, wie die Mitglieder des Bauhauses sie sich vorstellten, als eine die soziale Erneuerung vorwegnehmende Herausforderung an die Gestaltung, sondern als der Ausdruck ökonomischer Gesetze, Verhältnisse und technologischer Anwendungen. Das Ergebnis ist an allen Orten dasselbe: anstelle einer als Gesamtheit gestalteten Stadt wie Chandigarh oder Brasilia der unternehmerische Auswuchs von Schanghai, eine ganz andere Form der Rationalisierung, das zufällige Ergebnis lokaler, aber universell einheitlicher Entscheidungen. In der Praxis hat sich die zeitgenössische Stadt wegen der für die progressive Vorstellungskraft unvorstellbaren ökonomischen Unterschiede formal als weniger einförmig erwiesen: Luanda, Mexiko-Stadt, New Orleans, die grenzüberschreitende Megalopolis der Bucht von Benin.

Die Architektur ist beim Aufbau eines globalen bildlichen Esperanto als der formgebende Prozess dieser hyperrationalisierten, aber nicht zielgerichteten Verstädterung miteinbezogen. In dieser Schilderung erscheinen die Anstrengungen einzelner Architekten, so radikal ihre Meinungsverschiedenheiten, so visionär ihre Beiträge auch sein mögen, als an den Rand gedrängte Events, die lediglich die Peripherie einer weitaus größeren Zustandsbeschreibung abstecken. Wie poetische Ausdrücke etwa die Grenze zwischen dem weitgehend funktionalen und dem eigenwilligen, nicht zweckgerichteten Sprachgebrauch markieren. Roland Fischer hat, wie schon im Genre der Porträtfotografie, die Analyse einer formalen »Sprache«, hier der modernen Architektur, zu einem Endpunkt geführt.

Geschichtlich betrachtet wuchs die Fotografie mit dem Erscheinen der modernen Architektur auf, die nichts anderes bedeutet, als herrschaftliche Stile – und einheimische Methoden – durch reproduzierbare, skalierbare, dem Zusammenhang entrissene, industrielle Formate zu ersetzen. Die anfängliche Aufgabe der Fotografie war eine doppelte und bestand darin, an die ausgemusterte Vergangenheit zu erinnern und sie zu archivieren sowie die Formen und Tätigkeiten der entstehenden großstädtischen Welt zu fördern, wenn nicht gar zu feiern. Nur die Fotografie war in der Lage, beide Aufgaben zu meistern. In erster Linie betonte die Reduktion durch Zweidimensionalität und Schwarz-Weiß-Tönung die formalen Regelmäßigkeiten und Wiederholungen der neuen Formen. Zweitens sicherte die Reproduzierbarkeit die Entstehung von Archiven zu vielfachen Verwaltungszwecken. Schließlich betonte – oder verstärkte – ihre monokulare Perspektive, wie bereits viele Kritiker hervorgehoben haben, die rationalisierte Geometrie utilitaristischer Kontrolle, die noch effizientere und produktivere städtische Umgebungen ermöglichten.

Anfang der 1970er-Jahre haben Fotografen, Künstler, Theoretiker und selbst die Architekten begonnen, diese Entwicklungen zu untersuchen und auszuwerten sowie anspruchsvoller bildlicher und sprachlicher Kritik zu unterziehen. Von Bernd und Hilla Bechers formalen Katalogen vergangener Industriearchitektur über die New Topographics der US-amerikanischen Fotografen, von der Sachlichkeit und dem großformatige Detail in der Arbeit der Düsseldorfer Kunstakademie-Absolventen bis hin zu den digitalen Dystopien von Beate Gütschow haben eine Menge zeitgenössischer Arbeiten die Verbindung zwischen formaler Sprache und Architektur als ideologisches Instrument beleuchtet. Fischer hat diese Beziehung an der Basis erforscht.

Seine Vorgehensweise ist zwar einfach, die Konsequenzen sind allerdings weitreichend. Die grundlegende Frage, die Fischer zu stellen scheint, ist: In welcher Hinsicht bilden die generalisierten Architekturformen, denen man immer wieder in städtischer Umgebung auf der ganzen Welt begegnet, eine Sprache, das heißt, ein Kommunikationssystem, das nach Regeln funktioniert, denen die Nutzer unterworfen sind, aber unbelastet von der Spezifizierung durch Inhalt oder Situation und nicht dem Eingriff einzelner Agenten ausgesetzt ist? Um diese Untersuchung auszuarbeiten, hat Fischer grundlegende Einsichten des Surrealismus – und amerikanischer Fotografen der 1920er- bis 1960er-Jahre – nachvollzogen, nämlich die Dekontextualisierung des Gegenstandes, indem der Bildausschnitt zur Betonung formaler Eigenschaften und zur Reduzierung anekdotenhafter Informationen radikal beschnitten wurde. Fotografen wie Aaron Siskind oder Minor White dürften eine solche Herangehensweise verfolgt haben, um dem Betrachter psychologische, linguistisch-dichterische und geistige Assoziationen zu eröffnen. Das Foto dürfte damit eine Brücke zwischen den Subjektivitäten bauen, eine Brücke, deren Verkehr durch den Künstler initiiert und weitgehend kontrolliert würde.

Im Gegensatz dazu verstärkt Fischer grafische Form und Muster mit dem Ziel, Assoziationen zu verringern. Allerdings versucht er nicht, ähnlich dem Werk Gottfried Jägers – und dem vieler jüngerer Fotografen –, eine zeichenlose, nichtdenotative konkrete Fotografie zu gestalten. Es interessiert ihn nicht, seine Bilder zu veredeln oder zu einem vorsprachlichen, vorreferenziellen Garten Eden zurückzukehren. Stattdessen versucht er, die ungeteilte Aufmerksamkeit auf das bildliche Sujet zu lenken. Nur unbedeutende Spuren der Zeitlichkeit erscheinen in den verräterischen Schatten, die manche Fassaden kennzeichnen, und der Hinweis auf die künstlerische Subjektivität ist auf wenige, schwach gewinkelte Standpunkte begrenzt. Ansonsten sind die Standpunkte gerade und streng flach, isoliert von jeder Hintergrundinformation. Weil Muster vorherrschen, ist es unmöglich, die Fassaden real, historisch oder geografisch zu lokalisieren. Sie haben keine Urheber, Epochen oder Schauplätze – außer die durch Titeln angezeigten. Fischers Gegenstand ist nicht das Gebäude oder die Bauweise, sondern nur die Oberfläche und auch nicht die ganze Oberfläche, sondern nur ein Teil. Genug, um ihn als ein Motiv auszuweisen. Die Bilder geben keine Hinweise auf die Größe der Fassaden, und die Fotos ihrerseits verschleiern die Originalgröße durch die Veränderlichkeit ihrer Präsentation: Sie können buchstäblich in jeder Größe abgebildet werden – wie auch für die Gebäude jede Größe möglich und denkbar ist. Von (fast) jeder Verantwortung, ihre Sujets auszuweisen, befreit, bewegen sich die Bilder nahe der reinen Abstraktion und zeigen an Phoneme erinnernde Elemente in Systemen organisierter Wiederholung.

Der Weg, den Fischer im Bereich des Porträts verfolgt hat, beleuchtet auch die Ziele bei seinen Fassaden. In diesem Genre hat er sowohl mit großformatigen Einzelbildern wie auch mit »Kollektivporträts« (collective portraits) genannten riesigen Rastern oder Gittern mit regelmäßigen Reihen experimentiert. Wichtiger allerdings war die fotografische Behandlung der Sujets selbst. Indem er für eine Serie der 1980er-Jahre Mönche und Nonnen auswählte, ließ er die Diskussion über die Idee wieder aufflammen, das fotografische Porträt könnte Zugang zum Innenleben des Modells verschaffen oder Schlussfolgerungen über die Dinge hinter der Oberfläche auf der anderen Seite des Bildes erlauben. Die Fotografien hatten, besonders auf Kritiker wie den Amerikaner Michael Fried, eine große Wirkung, gerade weil sie die Entscheidung der Frage über den einen oder den anderen Weg verweigerten. Die Gesichter der ältesten Personen in ihren religiösen Habiten zeigen Altersspuren, die Topografie unübersehbarer Erfahrung, doch kein Lebensereignis oder Geisteszustand kann von den Bildoberflächen abgeleitet werden. Die Betrachter können über die individuellen Entscheidungen, die zum Eintritt in den jeweiligen Orden geführt haben, zwar spekulieren, doch bleiben ihre Leben Rätsel, versiegelt durch die Berufungen, und verbergen sich in aller Sichtbarkeit.

Die zehn Jahre später entstandenen Pool-Porträts, aufgenommen in Los Angeles und später in China, boten noch weit weniger von ihren Sujets an, weniger noch als die ausdruckslosen Porträts von Thomas Ruff und Thomas Struth. Fischer ließ die Modelle im Wasser bis zu den Schultern untertauchen und stellte sie frei von Emotion und jeglicher identifizierender Ausstattung dar. Sofern es eine der Intentionen der Düsseldorfer Schule gewesen ist, dem Sujet Autonomie von den Projektionen des Fotografen – und des Publikums – zu gewähren, so ist Fischer über diese politische Position hinausgegangen, um ihr Aussehen von allen bereits existierenden Bedingungen der Wirklichkeit zu befreien. Besonders bei den chinesischen Pool-Porträts gibt es so wenig zu spekulieren, dass wir auf die Merkmale des Gesichts oder eher die Elemente der Fazialität (»Gesichtlichkeit«) zurückgeworfen sind, fotografischer »Gesichtserscheinung«, bereits reduziert – zumindest für westliche Augen – durch die Auswahl junger, makelloser asiatischer Fassaden. Die geringfügigen Änderungen in der Pose scheinen so etwas wie ein Lexikon oder Inventar der Geisteshaltungen ohne entsprechende Emotionen. Fischers Porträts revidieren in ihrer Gesamtwirkung das Konzept des fotografischen Zeichens und der Wiederherstellung der Beziehung zwischen Betrachter und Bildgegenstand. Fischers Porträts entwickeln einen Prozess des Bezeichnens, der die Komponenten dessen analysiert, was ursprünglich als Grundlage der Darstellung gegeben war. Julia Kristeva hat für die abstrakte Malerei ähnlich argumentiert. Anders gesagt thematisieren die Porträts Aspekte der Fotografie, die die Bildkonventionen unsichtbar gemacht hatten. Sie pflastern den Weg für die Strenge der Fassaden.

Auf Gebäude als Gegebenheiten kann man nur von ihren Fassaden her Rückschlüsse ziehen. Fassaden funktionieren wie Synekdochen, Teile, die auf das größere Ganze verweisen. Doch das größere Ganze ist jeweils nur eine Vervielfältigung von Gestaltungselementen und erfordert unsere Aufmerksamkeit nicht bloß als formales Objekt, sondern als Element der Kommunikation. Eine streng linguistische Herangehensweise ist hier weniger zielführend als eine semiotische. Was kommunizieren die Fassaden in diesen Fotografien und wie machen sie es? Zuallererst zeigen sie einen Code, doch streng begrenzt. Sie zeigen industrielle Formen der Konstruktion, die auf präziser und konsequenter Wiederholung beruhen und diese Formen lassen sich auf viele kulturelle und geografische Schauplätze anwenden – Le Corbusiers »Modulor«. Die Muster sind individuell, doch in keinster Weise lokal oder regional bedingt oder vorgegeben. Eng mit der Idee der Wiederholung ist ihre nichtorganische, geometrische Struktur verbunden. Es gibt keine Möglichkeit, sie mithilfe von Hinweisen auf Handarbeit oder Spontaneität oder auch hier durch die Beiträge eines individuellen architektonischen Stils oder Materials (»das ist ein Gehry«, »das ist ein Hadid«) an einem menschlichen Maß zu messen. Auch erinnern sie nicht an die Elemente und Dekore eines mittelalterlich-christlichen oder muslimischen Stils, deren Ziel es war, das Auge in die Unendlichkeit zu führen. Sollten die heutigen Formen Unendlichkeit feiern, dann nur die Unendlichkeit in der heutigen Form eines sich verzweigenden Netzwerks finanzieller Institutionen, die in der Lage sind, solche Gebäude beinahe über Nacht zu errichten. Fischers Leistung ist, uns im Wesentlichen die Vorherrschaft und Kontinuität moderner Architekturpraxis zu zeigen. Gleichzeitig enthüllt die Reduktion der Fassaden auf ihre Gestaltungselemente eine Verwandtschaft mit den Methoden der konkreten Kunst diverser Positionen der letzten achtzig Jahre, vom Konstruktivismus eines Mondrian bis zu den fisicromia von Carlos Cruz Diez, vom Neokonkretismus von Lygia Clark und der Op-Art von Bridget Riley bis zu den typografischen Gemälden von Tauba Auerbach. Unter anderem. Zusammengenommen scheinen sie bloße Illustrationen von Johannes Ittens Grundkurs in Design am Bauhaus. Auf sie alle findet sich in Fischers Bildern ein Widerhall.

Moderne Architektur – unternehmerisch-kommerzielle und öffentliche Architektur – hat diese Positionen absorbiert und erneuert, um ästhetische Elemente ohne geistige Ziele hervorzubringen. Sie umgrenzen einen bloß bildlichen Raum für die Ästhetik in der Architektur (und Gesellschaft). Die gemeinsame Fantasie der vorangegangenen Avantgarde-Bewegungen in der Kunst und im Design war der Glaube, dass Abstraktion, in welcher Form auch immer, ein Mittel und Maß der Befreiung war. Der Glaube, dass ästhetische und künstlerische Bewegungen sich von ökonomischen Kräften trennen oder diese verändern und im Prozess der Bewusstseinserneuerung auch soziale Beziehungen erneuern könnten. Die Abkehr von der unerbittlichen klassengeprägten Wirklichkeit zugunsten der ästhetischen Theorie ist unaufhörlich kritisiert worden, doch Fischer betont, wie auch Gerhard Richter, wie die Welt auf der anderen Seite der Abstraktion aussieht. Mit Richters neuesten Streifen-»Gemälden« – und mit denen von Wade Guytons in den Vereinigten Staaten – kommt die ganze Geschichte der modernen Malerei und ihrer vielfältigen Ambitionen zu einem Ende in der Eliminierung jedweder Möglichkeit inhaltsverbundener Elemente. Dies sind große Designobjekte, die existieren, um eine spezifische wirtschaftliche Rolle zu übernehmen und physischen Raum inmitten von Kollektionen ähnlicher Objekte einzunehmen, ähnlich einer Währung, die in verschiedenen Farben gedruckt, aber in alten Bankgewölben gelagert und auf dieselbe alte Art ausgegeben wird.

So zeigen Fischers Fassaden auf vergleichbare Weise, dass das, was im Inneren des zeitgenössischen Bürogebäudes geschieht, keine einleuchtende Beziehung zu den an der Außenseite gezeigten Mustern hat, außer in dem Sinne, dass beide abstrakt sind. Erstere hinsichtlich der Datenverwaltung und der Kapitalströme, Letztere in Bezug auf den Design-»Fluss« durch die Kreisbahnen städtischen Wachstums und Verbrauchs. Dies hat, um es noch einmal zu betonen, nichts mit der Wahrnehmung des einzelnen Gebäudes als schön, anregend, nützlich oder in einem gewissen Sinn sogar transformativ zu tun. Die Fassaden-Serie – idealerweise sollte Fischer sie fast bis ins Unendliche fortsetzen – kommuniziert die Botschaft ihrer eigenen Ubiquität, Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit. Sie bildet eine perfektionierte Sprache, unendlich vielfältig in ihrem Vokabular, doch in ihrer Syntax begrenzt. Sie reflektiert eine perfektionierte Gegenwart ohne Vergangenheit, das Ende von Geschichte ohne Apokalypse.

 

 

Lyle Rexer is a critic, curator and lecturer. The author of many books and articles on photography, he is a core faculty member of the School of Visual Arts in New York. He lives and works in Brooklyn.

 

Lyle Rexer, „Roland Fischers Fassaden: die geschlossene Sprache der Architektur “ in Roland Fischer „Façades“, published by Hirmer, Munich 2015

 

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