Roland Fischer oder der Anspruch der Form

 

Catherine Francblin

2003

Das Porträt stellt auf Anhieb die Frage nach dem Subjekt. Und verlangt, daß man sich auf die doppelte Bedeutung des Wortes ›sujet‹ im Französischen besinnt. Das Sujet ist zunächst die »Materie, über die man spricht, schreibt oder die man schöpferisch gestaltet«. Daher wird es hier um das »Sujet der Fotografie« gehen. Gleichzeitig ist darunter ein philo- sophischer Begriff zu verstehen, das Subjekt, in der Bedeutung von Sein oder Individuum, der folgendermaßen definiert wird: »freies Bewußtsein, sinnstiftend, das allem menschlichen Sein zugrunde liegt«. Die Literatur, die sich mit dem Porträt beschäftigt, bevorzugt meist diese zweite Be- deutung: von einem Maler wird erwartet, daß er das im tiefsten Inneren des Subjekts verborgene Rätsel ergründet und – je nach Begabung ans Licht bringt und enthüllt. Denkt man an ein solches Vorgehen, eine sol- che Erforschung eines Wesens auch dann, wenn der Künstler mehrere Subjekte, also beispielsweise eine ganze Gruppe darstellt? Offenbar nicht. Anscheinend beschäftigt sich nur das Porträt mit dieser Frage, konzentriert alle Aufmerksamkeit auf sie, konzentriert der Maler alle An- strengungen auf diesen einen Punkt, auf den sich die Blicke richten. »Was ist also das Sujet des Porträts? Absolut nichts anderes als das Subjekt selbst. Wo ist die Wahrheit und Wirksamkeit des Subjekts zu finden? Nirgends anders als im Porträt«, schreibt der Philosoph Jean- Luc Nancy mit der Doppeldeutigkeit des Wortes spielend in einem Buch,1 das sich – halten wir das fest – ausschließlich mit der Kunst des Malers befaßt und die Ziele der Malerei mit denen des Porträts gleichsetzt. Was bewahrt unter diesen Bedingungen das Fotoporträt mit seinem Abbild- charakter davor, sich dem Anspruch des Malers zu entziehen, »Ähnlichkeit« zu erzielen? Wie verhält es sich mit dem Porträt, wenn es seine zentrale Stellung im Bild verliert und einen Platz in einem Ensemble von Halb-Klonen zugewiesen bekommt, wie dies etwa im Fall der ›Chinesi- schen Kollektivporträts‹ von Roland Fischer zu sehen ist, die wie Brief- marken aufgereiht sind?

Diese Fotoserie dient mir als Einstieg bei der Annäherung an die Arbeit von Roland Fischer, auch wenn mir bewußt ist, daß man es zweifellos angemessener finden könnte, mit den Fotos der ›Nonnen und Mönche‹ zu beginnen, die ›klassischer‹ sind im Sinne des Genre des Porträts – und auch bekannter. Aber die Art und Weise, wie die chinesischen Porträts die Frage des Subjekts aus philosophischer Sicht anschneiden, sollte es erleichtern, später mit größerer Klarheit auf die Serie der ›Nonnen und Mönche‹ zurückzukommen, über die bereits viel geschrieben wurde, die aber noch nicht im Licht seiner letzten Werke, die ähnliche Themen behandeln, betrachtet wurden. Mir gefällt – nebenbei gesagt – wie ein Künstler offenbar nach allen Seiten Fäden zieht, die sich eines Tages als Verbindungen der einzelnen Werke auf einer nicht voraussehbaren Landkarte erweisen. So könnte sich der Faden »Subjekt« durch den riesigen Raum der chinesischen Porträts ziehen. Der westliche Betrachter sieht die Gesellschaft in China unter dem Zeichen der Zahl. Die Metapher des Ameisenhaufens, die einem in den Sinn kommt, widerspricht der Vorstellung der Existenz von einander getrennter, sich individuell verhaltender Individuen. Das politische System, aus dem sich China heute gerade erst löst, unterstützt und untermauert das Gefühl einer zwar aus Individuen bestehenden, jedoch vom Gemeinschaftskult geprägten Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der man nach allgemeiner Auffas- sung der Entwicklung des Einzelnen wenig Bedeutung beimißt. Diese vereinfachte Sichtweise wird durch die Fotografien von Roland Fischer widerlegt, die das Kollektiv und gleichzeitig die Einheit des Individuums innerhalb desselben darstellen. Der Künstler, der sich mehrfach in China aufhielt, hat festgestellt, daß der Drang des Einzelnen, sich von der großen Menge zu unterscheiden, dort vielleicht noch größer ist, als in westlichen Gesellschaften. Diesen mächtigen Impuls, der allgegenwärtigen Gruppe zum Trotz als eigenständige Person zu existieren, wollte Roland Fischer darstellen. Auf den ersten Blick dominiert die Gruppe. Die Fotografien, deren großes Format hier seine volle Berechtigung hat, beschwören den Gedanken an die Masse, an eine riesige menschliche Gemeinschaft. Das geometrische Raster, durch das man die große Zahl der Männer und Frauen als homogenes Ganzes sieht, weckt überdies das Gefühl, einer Armee gegenüber zu stehen, einer reglementierten Masse. Aber dasselbe Raster, das dazu dient, das ungeheure Ausmaß einer Gesellschaft und ihren quasi militärischen Charakter zu vermitteln, dient auch einem entgegengesetzten Zweck. Seit Mondrian als Emblem der Moderne betrachtet,2 stellt es die immerwährende Wiederholung desselben geometrischen Elements dar. Es ermöglicht die Darstellung des Unbegrenzten, ohne die Betrachtung jedes einzelnen seiner zahllosen Elemente zu behindern, die alle den gleichen Raum und die gleiche Bedeutung beanspruchen. Unbestreitbar geht von den ›Chinesischen Kollektivporträts‹ eine starke Wirkung aus, die zu einer ersten globalen Betrachtung des Bildes einlädt. Im ersten Moment (nur für einen Augen- blick) springt dem Betrachter das Bild als Ganzes ins Auge und überschwemmt ihn mit Eindrücken, bombardiert ihn mit Hunderten von Gesichtern und direkt auf ihn gerichteten Augenpaaren. Im nächsten Moment, also fast zur gleichen Zeit, bewirkt ein formaler Mechanismus, daß jedes Gesicht einen eigenen Rahmen erhält, ermöglicht so eine andere Lesart und entzieht den Betrachter einer globalen Betrachtungsweise, führt so zu einer Annäherung – eine Art Verteidigungsmecha- nismus gegenüber der Gruppe – und verstärkt die Aufmerksamkeit für jedes einzelne Individuum. Jedes der zahlreichen Gesichter, durch die Struktur des Rasters isoliert und mit einem Rahmen versehen, kann jetzt als echtes Porträt betrachtet werden. Jeder kann jetzt für sich allein aus der Nähe, in allen Einzelheiten erforscht werden. Dennoch bleibt die Gruppe als Autorität bestehen. Die globale Betrachtung gerät nicht in Vergessenheit, sondern geht weiter, überlagert die zersplitterte Sicht wie ein an der Peripherie wahrgenommenes Bild. Roland Fischer inszeniert zwei sich überlagernde Standpunkte, die zu einander in Widerspruch stehen. Indem er so vorgeht, stellt er nicht nur eine Art passive Koexistenz zwischen dem Kollektiv und denen her, die es bilden – darüber hinaus verweist er auf die Dynamik einer Beziehung, die jedes seiner Mitglieder mit allen andern verbindet. Auf diese Weise fordert er uns auf, sowohl die Besonderheiten wie die Gemeinsamkeiten der zahllosen chinesischen Porträts zu entdecken, wohl wissend, daß uns gerade die Besonderheiten in Erstaunen versetzen, auch wenn die fotografische Anordnung (der Bildausschnitt, das Licht, das Format) mehr die Gemeinsamkeiten betont und nicht sofort erkennen läßt, wie sehr sich die Subjekte, die hier als Gruppe solidarisch vereint erscheinen, in Wirklichkeit unterscheiden. Man versteht jetzt, aus welchem Grund die chinesischen Porträts und die Porträts der ›Nonnen und Mönche‹ miteinander verglichen werden kön- nen. In ihre schwarzen oder weißen Gewänder gehüllt, tragen sie sichtbar die Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einer spirituellen Gruppe zur Schau, dem Orden, der sie vereint – auf die gleiche Weise ihre Ver- bundenheit signalisierend, wie die Menge der Gesichter von Studenten, Arbeitern oder Bauern im streng gerahmten Raum der chinesischen Porträts bei Fischer die Macht der von ihnen gebildeten Gemeinschaft demonstriert. In dem einem Fall hat sich der Künstler entschieden, Menschen zu fotografieren, deren Kleidung (man könnte auch von Uniform sprechen) wie eine Metonymie für den Orden steht, dem sie ange- hören. Im anderen Fall hat der Künstler die Individuen, nachdem er sie einzeln fotografiert hat, wieder in den Schoß der überbevölkerten Gemeinschaft zurückversetzt, alle gleich, uniform, eben Subjekte, diesmal im staatsrechtlichen Sinn des Wortes.

Die Bilder lassen also verschiedene Lesarten zu. Wenn man sich mehr für Philosophie oder Soziologie als für Ästhetik interessiert, wird man dort eine Reflexion über die Vorzüge der Ordnung in den menschlichen Gemeinschaften und ihre auf paradoxe Weise befreiende Wirkung ent- decken. Wenn man zu begreifen versucht, auf welchen Prinzipien diese uns beunruhigenden Bilder beruhen, wird man Roland Fischer darin zustimmen, daß das Wesen des Porträts nur zur Hälfte durch das abge- bildete Subjekt bestimmt wird, da fünfzig Prozent der visuellen Kraft des Bildes von seinem Inhalt (contenu) ausgehen und fünfzig Prozent von dem Beinhaltenden (contenant), das heißt, von seiner Form und seiner Konstruktion.

Halten wir die fünfzig Prozent fest, die, was die beanspruchte Fläche betrifft, nicht dem Subjekt gewidmet sind, sondern seine Wahrnehmbarkeit garantieren und seine Anziehungskraft verstärken. Die Form schafft Distanz. Ist das »Geheimnis«, das von einem Werk ausgeht, etwas anderes? Entsteht nicht durch diesen Hiatus und diese Distanz, welche die Form zwischen dem Subjekt und dem Betrachter entstehen läßt, das Gefühl, es mit einem geheimnisvollen, unergründlichen Objekt zu tun zu haben? Roland Fischer versteht es meisterhaft, den Fotografien diese Art von Distanz zu verleihen. Nicht nur, weil der Abstand zum Betrachter mit dem Format eines Werks zunimmt und die Dimensionen seiner Foto- grafien oft beeindruckend sind. Auch nicht aus dem Grund, weil von ihrer Oberfläche, bedingt durch die Qualität der Abzüge und die Perfektion der Präsentation, ein Hauch von Kühle ausgeht. Der Effekt der Entfernung, der Fremdheit, der Überraschung, den diese Bilder hervorrufen, kommt von innen: Er resultiert aus ihrem konstruierten Charakter, der den Betrachter mit einer Struktur konfrontiert, die sich von der Realität unterscheidet, einer Struktur, aufgrund derer man die Fotografie nicht auf ihren Abbildcharakter reduzieren kann. Die Serie der ›Fassaden‹ unterstreicht die Kapazität des Mediums Fotografie, über die bloße Funktion der Darstellung der Realität hinauszugehen und sich neben Malerei und Skulptur zu behaupten, innerhalb einer künstlerischen Praxis, die den Werten der Moderne verpflichtet ist. Wie ihre Titel ankündigen (›La Défense, Paris‹, ›Cicil Street, Singapore‹, etc.) bestätigen diese Foto- grafien, daß Roland Fischer ein Fragment der sichtbaren und berührba- ren Welt, wie man sie beim Gang durch eine Metropole der Moderne erleben kann, scharf ins Visier genommen hat. In diesem Sinn handelt es sich durchaus um Fotografien, also Abbilder des Realen und mehr noch einer vertrauten Realität, die sehr gut wiederzuerkennen ist. Im Gegensatz zu anderen Künstlern der gleichen Generation und der gleichen gedanklichen Richtung, der »objektiven« Fotografie, die völlig abstrakte Bilder kreiert, (Thomas Ruff beispielsweise), hält Fischer eine enge Bindung zur Realität aufrecht. Seine Serie der ›Fassaden‹ würde dennoch in eine Ausstellung abstrakter Bilder passen, neben Werken von Künstlern, Vertretern der Strömung des »Neo Geo«, oder neben Werken einer Malerei, die Motive der modernen Kunst von neuem aufgreift und sich dabei auf die Wahrnehmung einer immer stärker zutage tretenden Geometrisierung des städtischen Umfelds stützt. Durch einen Bildausschnitt, der die Realität der Umgebung neutralisiert und jede Tiefenwirkung ausschließt, rückt diese Serie in die Nähe zur Op Art und der Kinetischen Kunst der britischen Künstlerinnen Bridget Riley und Sarah Morris. Dieses Gitter oder Raster führt zu einer Darstellung der Wirklichkeit in der Zweidimensionalität, die für das Bildverständnis der Moderne charakteristisch ist.

Wie man gesehen hat, trägt die flächenhafte Struktur des Rasters der chinesischen Porträts dazu bei, eine Distanz zu schaffen, die es dem Betrachter erlaubt, sich der Heftigkeit einer letztlich unausweichlichen Konfrontation mit einer besonders zahlreichen Personengruppe inner- halb der Gesellschaft zu entziehen. Die Zweidimensionalität verweist auf die Autonomie der Kunst, bestätigt die Notwendigkeit der Form. Auf den Fotografien von Roland Fischer verhindert die Flächigkeit jedoch nicht, daß das Sujet hartnäckig präsent bleibt und seine Verwurzelung in einer konkreten Realität erkennen läßt, die ihrerseits durchaus Tiefe besitzt. Die Verbindung einer frontalen, zweidimensionalen Sichtweise mit einer der Realität verpflichteten Betrachtung ist das Charakteristikum der Arbeiten Roland Fischers. Man begegnet ihr vornehmlich in der Serie der ›Los Angeles Portraits‹, auf denen sich das Reale und das Irreale, das Materielle und das Immaterielle, in einem einzigen Bild von äußerster Musikalität auf faszinierende Weise durchdringen.

Wenn alle Fotografien Roland Fischers die Existenz einer zwar fernen, aber dennoch überprüfbaren Außenwelt manifestieren, so gilt das besonders für die Porträts, die eine vor dem Objektiv sitzende Person voraussetzen. Gerade im Fall des Porträts ist die Fotografie auf besondere Weise der Garant der Realität, denn das Objekt, das sie dokumentiert, ist ein Körper –, ein menschlicher Körper zudem, mit dem das andere menschliche Wesen, der Betrachter, sofort eine nähere Beziehung herzustellen versucht, indem er seinem Gegenüber alle möglichen Arten von Eigenschaften zuschreibt, die sein eigenes Leben ihm suggeriert.

Wie verfährt also der Künstler bei den ›Los Angeles Portraits‹ mit diesem besonderen Objekt, von Natur aus »sympathetisch« im etymologischen und damit ursprünglichen Sinn des Wortes?3 Er versenkt es zur Hälfte, entzieht es dem Blick des Betrachters in der einzigen Absicht, dem äußersten Ende des Körpers, seinem privilegierten Teil, ausgestattet mit den spirituellen Eigenschaften des Wesens, besonderen Glanz zu verlei- hen: dem Gesicht. Als Träger der Wiederkennungsmerkmale, der Identifizierung, gilt das Gesicht in der christlich-jüdischen Kultur als hei- lig (im Gegensatz zum Geschlecht). Das Gesicht ist die »der Person« schreibt der Theologe Olivier Clement in einem den ›Nonnen und Mönchen‹ gewidmeten Text, während der Philosoph Emmanuel Levinas in jedem Gesicht »einen an mich gerichteten Appell« sieht, »die Aufforderung mich dem anderen zuzuwenden, ihn nicht allein zu lassen«. Einem Gesicht zu begegnen, sagt er, »bedeutet im selben Moment einen Ruf und einen Befehl zu erhalten«4.

Die Porträts der Serie aus Los Angeles machen es möglich, diese Dimension des Individuums zu erfahren oder besser gesagt, zu erahnen, wie bei einem Blick durch eine sehr dünne Glasscheibe. Auf die gleiche Weise wie die Mönche dem Fotografen umso eindringlicher ihr Gesicht zuwenden, je mehr sie ihren eigenen Körper in einem Gewand verhüllen, das ihre Zugehörigkeit zu dem großen Gebilde des Zisterzienserordens erkennen läßt, senden die Modelle der ›L.A. Portraits‹ einen stummen Appell an den Betrachter, umso flehender, da einzig ihr Gesicht auftaucht und sich ihm öffnet, während der Rest der Gestalt in den Schatten ver- bannt bleibt, begraben unter der glatten, einförmigen Oberfläche des Bildes. Die Spannung zwischen dieser farbigen Masse, in der die Identität des Sujets der Fotografie untergeht, und dem klar erkennbaren Gesicht, das sich herausschält, verleiht diesen Werken eine ungewöhnliche Majestät. Man könnte sagen, daß sich hier die Wiedergeburt des Gesichts vollzieht. Man könnte auch von seiner Krönung sprechen, einerseits weil das Gesicht wie in einer kostbaren Fassung ruht, andererseits weil die formale Behandlung, die der Künstler ihm angedeihen läßt, ihm einen deutlich sichtbaren Ausdruck von Feierlichkeit verleiht.

Diese Gesichter, deren Züge uns Fragmente einer jeweils einzigartigen Geschichte vermitteln, enthalten keinerlei Information über Kalifornien oder die Kalifornier. Die Fotografien von Roland Fischer lehnen die Anekdote kategorisch ab. Daher geschieht es auch in keiner Weise aus soziologischem Interesse, sondern aus technischen Gründen, wenn er sich entscheidet, nach Los Angeles zu gehen. Nachdem er sich für das Projekt entschlossen hatte, bei natürlichem Licht Gesichter zu fotografieren, die aus dem Wasser eines Schwimmbeckens auftauchen, war er gezwungen, in einer Gegend mit wolkenlosem Himmel und gleichbleibendem Licht zu arbeiten. Von der Form im Verhältnis zum fotografierten Sujet gehen sozusagen ständig Forderungen aus. Die Form, also das Konzept, welches das Werk bestimmt, diktiert fortwährend seine Rahmenbedingungen. Warum hätte Roland Fischer seine ersten Gruppenporträts in China aufgenommen, wenn er nicht Gesichter gesucht hätte, deren deutliche Ähnlichkeit in den Augen des Westens, zu dem wir ja gehören, ihm erlaubt, in einem einzi- gen Bild das Porträt einer riesigen Gemeinschaft, die man leicht als solche erkennt, mit dem Porträt unterschiedlicher Individuen, aus denen sich das Bild zusammensetzt, zu vereinen?

Man kann also das Werk von Roland Fischer einem gewissen Formalis- mus zuordnen in dem Maße, wie es als Produkt einer streng programmierten Formalisierung des Visuellen erscheint. Dennoch besteht kein Zweifel, daß der Künstler das Subjekt nie aus dem Auge verliert und es in seinen Fotografien niemals belanglos ist. Wenn es zutrifft – wie bereits gesagt–, daß einem Gesicht zu begegnen, soviel bedeutet, wie Zugang zu der Person zu finden, dann bedeutet es, ein Gesicht zu fotografieren, den Königsweg zu dem Subjekt zu beschreiten. Anders gesagt, die Entscheidung, ein Gesicht zu fotografieren, ist in der Fotografie die Entscheidung für das Subjekt selbst, entsprechend dem Sprachgebrauch, der mit Subjekt das Innere des menschlichen Wesens bezeichnet, als seine inti- me Sphäre verstanden »als ein Feld, eine Quelle von Unruhe, Konflikten – in dem sich Symptome abzeichnen«.5

Levinas fügt hinzu: »Das Gesicht, so wie es sich hinter seiner Fassade darbietet, zeigt ein Wesen im Moment seines Todes, wehrlos, nackt, Aus- druck fremden Elends.« Wenn es sich einem anderen zuwendet, an sein Verantwortungsgefühl, sein Mitleid, appelliert, wenn es bittet, fordert, dann darum, weil es der Teil des Menschen ist, der vom Tod am stärksten bedroht ist. Im Gesicht verbinden sich die Stärke des Menschen und die Allgegenwart des Todes, der ihm seine Schwäche vor Augen führt. Die Fotografien aus der Serie ›Nonnen und Mönche‹ wie auch die der ›L.A. Portraits‹ bilden in bewundernswerter Weise ein geschmeidiges und solides Kondensat der beiden Wesenheiten, die das Subjekt konstitu- ieren: seine Kraft und seine Zerbrechlichkeit zugleich. Die Sprache ist verpflichtet zu trennen, zu unterscheiden. Wir sagen »das Sein«, wir sagen »Tod«, »Inhalt«, »Form«. In der Fotografie dagegen durchdringen sich die Motive und vermischen ihre Erscheinungsformen (wofür die Sprache kein Wort mehr hat). Das Bild ist weder eine Collage noch das Resultat einer Zusammenstellung. Es bietet Raum für Beziehungen zwi- schen Materialien verschiedener Art, ist ein Ort des Austauschs, ein Kreislauf, in dem die Elemente sich gegenseitig in Schwingung versetzen. Um zu begreifen, auf welche Weise dieser Kreislauf sichtbar wird, muss man sich nicht unbedingt auf die Gesichter konzentrieren. Hunderte von Gesichtern, mit denen die ›Chinesischen Kollektivporträts‹ uns konfron- tieren, ebenso wie die Porträts der ›Nonnen und Mönche‹ wie auch der ›Los Angeles Portraits‹, besitzen eine solche Autorität, dass sie den Betrachter gelegentlich in die Enge treiben, ihn zwingen, auszuweichen, die Betrachtung des Bildes als Ganzes zunächst einmal aufzuschieben und schrittweise vorzugehen, nur Fragmente zu betrachten. Das Ordensgewand, das die Gesichter der ersteren umgibt, die Wasserfläche, auf der letztere schweben, bieten sich eher für eine solche optische Zerlegung an. Das Ordensgewand, weil es geschmeidig ist, gleichzeitig den Körper der Priester modelliert wie auch die Gruppendisziplin einer religiösen

Gemeinschaft zum Ausdruck bringt – das flüssige Element, weil es amorph ist, dennoch durch sein Volumen, sein Gewicht, seine Dichte, seine Farbe definiert ist – das eine wie das andere zugleich Inhalt und Form, Härte und Weichheit zeigt, illustrieren sie auf vollkommene Weise den Gedanken der Elastizität, ein charakteristisches Merkmal der Raum- darstellung in den Fotografien von Roland Fischer. Nichts wird hinzu- gefügt, in der Absicht, einen bestimmten Sinn hineinzuinterpretieren. Kutten, Gesichter, Zentrierung der Körper, Oberfläche der Fotografien und Wasser eines Schwimmbeckens: Alles trägt gleichermaßen zum Inhalt bei, alles ist gleichermaßen Sujet der Fotografie und Gegenwart des Subjekts als Seiendes (oder Nicht-Seiendes), als Individuum (und Mitglied einer Gemeinschaft), als waches Bewusstsein (oder absolute Verschlossenheit). Das weite Gitter, das den Raum aufrastert, entspricht bei den ›Chinesischen Kollektivporträts‹ dem Bedürfnis, ein Werk zu kon- struieren, dessen fotografisches Sujet einerseits mit dem Subjekt im philosophischen Sinn übereinstimmt und dessen Form andererseits durch Mehrdeutigkeit und Veränderbarkeit ihre Identität erhält, sodass Form und Inhalt kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind. Das Interesse an Strukturen, die, wie das Raster, gleichzeitig offen und ge- schlossen sind, zeigt sich bereits in den ersten Werken Roland Fischers. Er greift dieses Thema mit den Porträts der Zisterzienser-Mönche auf, die in Klausur leben. Aber erst in der Serie der ›Kathedralen‹ entwickelt er das Thema in seiner ganzen Breite. Hier überblendet Roland Fischer Außen- und Innenansichten europäischer Kathedralen. Mit Hilfe der digitalen Technik kombiniert er eine perspektivische Ansicht des Innenraums mit einer frontalen Ansicht der Fassade. »Von der Perspektive mitgezo- gen, versenkt sich das Auge in die Tiefe des Kirchenschiffs, um schließ- lich wieder zu einer Außenansicht der Kirche zurückzukehren, oder in umgekehrter Richtung von der Fassade zum Chor in einem ununterbrochenen Hin- und Her«, schreibt Anne Wauters.6 Tiefe und Fläche: die Verbindung dieser Motive, denen wir bereits in den vorausgegangenen Porträtserien begegnet sind, schafft hier einen völlig künstlichen Raum, fast monströs, dessen fehlende Tiefe seine majestätische Wirkung noch unterstreicht, als würde er in die Höhe streben, an Spiritualität gewinnen, was er an Tiefe und Natürlichkeit verliert.

Man erkennt, wie Roland Fischer in jeder Serie von neuem die gleichen Fragen aufgreift und mit den gleichen Gegensätzen arbeitet. Auch wenn jede der von ihm geschaffenen Serien ein bestimmtes Sujet erforscht, arbeiten alle in der gleichen Weise wie ein Porträt, das versucht »das Rätsel des Subjekts« zu ergründen. Weder die ›Kathedralen‹ noch die ›Fassaden‹ stellen eine Ausnahme dar. Diese beiden Serien, in denen das menschliche Gesicht abwesend ist, stellen den Gegenpol zu der aus Porträtserien bestehenden Gruppe dar. Aber im Werk von Roland Fischer sind es bekanntlich die gegensätzlichsten Elemente, die die ausgewogensten Kompositionen hervorbringen, das heißt diejenigen, in denen fünfzig Prozent des Raums dem Inhalt gewidmet sind und die der Form gewidmeten fünfzig Prozent nicht länger antagonistische Positionen ein- nehmen, sondern sich in Bezug auf Stellung und Funktion miteinander austauschen. So betrachtet, könnte man die Nonnen und die Mönche seiner Fotografien wie Kathedralen beschreiben. Die ›Chinesischen Kollektivporträts‹ ihrerseits könnten als zeitgenössische Architektur betrachtet werden, und die gleichzeitig offenen und verschlossenen Gesichter der ›Los Angeles Portraits‹ wie Fassaden. Die hieratische Aura der Bildelemente, hervorgerufen durch ihre geometrische Anordnung, sowie deren beständiger Bedeutungswandel wiederholen letztlich nur den Impuls, der von jeder seiner Fotografien ausgeht.

 

 

Catherine Francblin ist eine französische Kuratorin und Kunstkritikerin in Paris

 

1 Le regard du Portrait, Paris 2000.

2 Vgl. Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythes, Dresden 2000.

3 »Sympathie« griechisch »sympatheia«: »syn«, mit, und »pathein«, fühlen.

4 In: François Poirié, Emmanuel Levinas. Qui êtes-vous?, Paris, 1987.

5 Georges Didi-Huberman, in: A visage découvert, Ausstellungskatalog Fondation Cartier, Paris 1992.