Miguel Fernández-Cid 2003 german

 
Die Madonna mit den großen Augen
 
Miguel Fernandez-Cid
 

Ein Blick auf die jüngste Entwicklung der deutschen Fotografen
aus der Generation von Roland Fischer führt zu signifikanten
Einsichten. Sie haben viel dazu beigetragen, dass sich die Kun-
stsammlungen und großen Museen zeitgenössischer Kunst der
Fotografie öffneten und diese nun sogar der Malerei den Rang streitig
macht. Der Fotografie gelang dies durch die Einführung einer Ästhetik,
die in Kamerapositionierung und Motivwahl sichtbar wird, aber auch in
der dem Bild vorausgehenden Reflexion, in der systematischen
Arbeitsmethodik oder in der Wahl der technischen Ausstattung, etwa
des Typs der verwendeten Kamera, der Belichtungsart, des Stativs
oder des Bildausschnitts. Nun gelangt diese Entwicklung allmählich an
ihren Endpunkt, und zwar genau in dem Moment, als sie zu viele Nach-
folger gefunden hat. Von diesen verstand sich Roland Fischer dank
seiner Energie, seines Gespürs und seiner Art, unbequemen Situatio-
nen nicht auszuweichen, abzusetzen.
Ich möchte dies erklären. Ich erinnere mich noch gut daran, wel-
chen Eindruck Fischers erste Bilder auf mich gemacht haben, seine
ganz eigene Art, über das Medium der Fotografie eine neue, dreidi-
mensionale Lesart dessen anzubieten, was beispielsweise Zurbarán
seinerzeit über die Malerei erreicht hatte. Die Mischung aus Strenge
und offener Nacktheit in den Los Angeles Portraits, die fortwährende
Herauslösung von Fassadenfragmenten aus ihrem Kontext, dient dazu,
Strukturen und Rhythmen anschaulich zu machen. Sie ist ein Mittel, den
Betrachter durch eine besondere Form von Ars combinatoria von der
Bewunderung des einzelnen Motivs zum strengen Prinzip des Seriellen
zu führen, zu einer konstruktiven, nahezu rein geometrischen Ordnung,
zu formalen Ansätzen, die der Op art zu eigen sind, und offenbart, dass
Fotografie dieselbe Sprache spricht wie eine von Farben getragene
Malerei. Dabei ist Fischer nie schrill oder sprunghaft, sondern findet
eine Formel für ungezwungene Kontinuität. Nicht vergessen werde ich
auch die Empfindungen angesichts seiner ersten Kathedralenbilder,
diese überraschende Neuinterpretation der Linearität, die immer als
Inbegriff der Gotik gegolten hatte. Oder die Kühnheit der Kollektivpor-
träts, mit denen er das Unmögliche wagt. Ich muss es grundsätzlich
bekennen: Bei anderen Fotografen habe ich keine Probleme bei der
Auswahl einer Serie, eines Motives, einer Schaffensperiode oder sogar
eines einzelnen Bildes. An Roland Fischer aber fasziniert mich seine
Art, einen Themenkomplex zu umreißen und unmittelbar darauf auch
dessen Grenzen auszuloten, seine Art also, eine glücklich gewählte, und
dabei rigide Arbeitsmethodik durch neue Möglichkeiten zu erweitern.

Doch zurück zu Zurbarán: Indem Fischer Mönche porträtiert, muss
er sich einer gewissen Verbindung zu Zurbarán bewusst sein, die den
Betrachter seiner Bilder unweigerlich zu den Werken des Malers führt.
Von im Prinzip zweidimensionalen Kunstformen wie der Malerei und
der Fotografie ausgehend, spielen beide Künstler mit der Dreidimen-
sionalität. Zurbarán greift dabei auf die Gesetzmäßigkeiten der Zeich-
nung und der Geometrie zurück, Fischer auf die des Lichts. Dabei han-
delt es sich um ein alles in allem extrem klares Licht, das völlig in Ein-
klang mit seiner zeitgenössischen Sichtweise steht; der Hintergrund
ist leer und die Personen sind fast herausfordernd in den Vordergrund
gerückt. In dieses karge Szenarium führen die Gesichtszüge ein beun-
ruhigend menschliches Gegengewicht ein, ohne im Spiel der Kontraste
übertrieben oder verzerrt zu wirken. Mit anderen Worten: Zurbarán
bedient sich der Details, die er in ein Porträt einfügt, um etwas zu illu-
strieren; er setzt sie symbolhaft, narrativ ein. Für Fischer hingegen ist
die Oberfläche, die Haut, ein Abbild des Innenlebens, der Spiritualität
des Porträtierten. Er ist dem Postminimalismus verpflichtet, doch hat
seine Betrachtungsweise etwas Rätselhaftes an sich. Die Gesichter
sind so nüchtern, dass sie kühl wirken, und doch bewirkt die Auswahl
des Motivs eine beunruhigende Intensität.

Etwas Ähnliches passiert mit den Los Angeles Portraits. Die Por-
träts sind im Prinzip nichts anderes als Bildnisse vor leerem Hinter-
grund und in leerem Raum, mit frontalem Blick und einer gewissen
Symmetrie. Beschreibt man die Serie ganz allgemein, so sieht man sich
zunächst mit einem asketischen Szenarium konfrontiert, bei näherem
Hinsehen indes erkennt man die Gefühlstiefe der Komposition und
beginnt sie zu schätzen. Dank des klaren Lichts, durch das die Foto-
grafien der Porträtierten näher rücken, treten die Unterschiede zwi-
schen den einzelnen Individuen hervor. Fischer reduziert den Arbeits-
kontext. Er fasst Raum und Motiv zusammen, vermeidet alles schmük-
kende Beiwerk und spielt mit einer äußerst subtilen Ironie: Bei den
Abgebildeten handelt es sich um Einwohner von Los Angeles, indem
der Künstler jedoch die Porträts unterhalb der Schultern abschneidet
und in ein eigentümlich reines Medium taucht – es gibt keine harten
Schatten, Blautöne, Himmel und Wasser dominieren -, verleiht er
ihnen, gemäß der westlichen Vorstellungswelt, in symbolischer Form
den Rang von Engeln.

Diese Art Doppeldeutigkeit findet sich auch in späteren Serien wie-
der, etwa den Kollektivporträts, die Fischer in China beginnt, wohlwis-
send, dass der westliche Betrachter die chinesische Gesellschaft –
trotz der Unterschiede zwischen den Individuen – unter dem Zeichen
des Kollektivs, der Masse als Einheit sieht.

Vorher allerdings beginnt er an der Serie der Kathedralen zu arbei-
ten. Er fotografiert die großen gotischen Bauwerke in Europa. Die
genaue Wiedergabe der Außenfassaden und der Innenräume ermög-
licht es ihm, unterschiedliche Bilder in einem zu verschmelzen, wel-
ches Effekte birgt, die wir häufig als widersprüchlich empfinden. Eine
Serie, in der das Lineare vorherrscht und die Fischer aufgrund ihrer
plastischen Wirkung beliebig hätte erweitern können. Um es in aller
Deutlichkeit zu sagen: Wenn man Fischer der Schule der Bechers
zuordnet, vergisst man, dass er sich nicht der Dokumentation ver-
pflichtet fühlt, sondern der extremen aber respektvollen Suche nach
dem, was hinter den Menschen und den Dingen liegt, dass er hinter die
offenkundige Schlichtheit der Architekturen und zum Gehalt der Spra-
che vordringen will.

Als wir ihm also ein Projekt über den Pilgerweg nach Santiago vor-
schlugen, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, die bereits bestehen-
den gotischen Kathedralenbilder wieder aufzugreifen und die Serie
getreu seiner ursprünglichen Idee einfach fortzuführen. Die Unterla-
gen, die wir ihm vor der Reise zusammengestellt hatten, enthielten
Bildmaterial über Kirchen und Kathedralen, aber auch über Klöster und
Schlösser. Unsere Absicht, unser Wunsch war es, dass er das Projekt
so offen wie möglich gestalten sollte. Wir konnten jedoch nicht vor-
aussehen, auf welche Weise er – möglicherweise unbewusst – unsere
Erwartungen erfüllen würde. Denn das Projekt Camino ist kein Kom-
pendium und auch keine Aneinanderreihung von Beschreibungen, son-
dern das Ergebnis einer Arbeitsmethode, die auf sorgfältiger Recher-
che beruht, wobei jeder Situation und jedem Motiv gründliche Überle-
gungen vorausgegangen sind. So kommt es, dass manche Bilder
(Burgos, León) in der Tradition der großen gotischen Gotteshäuser in
Mitteleuropa stehen, während in anderen (Pamplona) malerische
Effekte vorherrschen, die von ihm erstmals nach dem Fotografieren
zeitgenössischer Fassadenfragmente eingeführt wurden. Wiederum
andere, wie etwa San Isidoro, knüpfen an die Fotografien des Tempels
von Cao Dai in Vietnam an. Beim Betrachten der Bilder von Jaca oder
San Bartolomé scheint es, als habe Fischer eher das romanische Ele-
ment als die aufstrebende gotische Komponente gesehen. Logroño
oder auch Santo Domingo de la Calzada erwecken wiederum den Ein-
druck, Fischer habe sich von den Farben und Skulpturen verführen las-
sen. Die Serie Gaudi lässt ein derzeit eher geringes Interesse an der
Symmetrie wieder aufleben, auch wenn sehr intensive Farben domi-
nieren. Vor allem zwei Fotografien indes zeigen, wie weit gefasst
Fischers Serien sind: Santiago de Compostela und Lugo I. Von der
Kathedrale in Santiago de Compostela hätte er ihre Nähe zur Zeich-
nung oder zur Skulptur auswählen können, doch er entschied sich für
das Immaterielle, die Atmosphäre. Wenn man vor Fischers Werk
steht, ist das Sehen ein Sein. Er hat nicht Fragmente und Motive aus-
gesucht, sondern eine Dichte, eine Idee, einen Gedanken eingefangen,
und den Gefühlen der Pilger auf ihrer Reise Ausdruck verliehen. In
Lugo I hat die Verführung einen Namen, die Madonna mit den großen
Augen -, zweifellos ein Bildnis, dessen außergewöhnliche Schönheit
dem Künstler nicht entgangen ist. Indem Fischer sie so fotografiert,
wie er das tut, versteht er seinem ursprünglichen Konzept eine neue
Wendung zu geben, denn er spielt nun mit der Mehrdeutigkeit von Hei-
ligenbildern aus einer eindeutig zeitgenössischen Sicht.

Nicht zufällig fotografiert er zuerst Mönche, dann »Engel« aus Los
Angeles und danach Kathedralen. Die Darstellungen der Spiritualität,
eines konkreten Individuums, stellt er den Symbolen der Gemein-
schaft, des Sozialgefüges gegenüber, als welche die Fragmente von
Hochhausfassaden sowie die Kollektivporträts gelten können. So wer-
den zwei Standpunkte, die eigentlich in Widerspruch stehen, in einen
Spannungsbogen eingebunden. Und derselbe Fotograf, der an einem
Gebäude ein plastisches Detail hervorzuheben weiß, kann sich auch
die Wirkung vorstellen, die die Zusammenfassung von tausend Einzel-
porträts hervorruft.

Die Leichtigkeit, mit der manche die vielfältigen Deutungsmöglich-
keiten, die in den Fassadenbildern enthalten sind, nach flüchtigem
Betrachten wie selbstverständlich aufnahmen, erstaunt mich. Und ich
muss gestehen, dass ich manchmal, wenn ich sah, wie Roland Fischer
einem ursprünglichen Konzept eine neue Wendung gab, um die Ausge-
wogenheit der Serie fürchtete. Ausreichend umfangreiche und unter-
schiedliche Projekte geben indes zu verstehen, dass das System
bereitsteht und Fischer die Spielregeln sehr genau kennt. Auf jeden
Fall bin ich der Meinung, dass man die Serie nach den letzten Ergän-
zungen besser versteht, denn ihre Dynamik animiert zu einer erneuten
Durchsicht des Ganzen aus einem anderen Blickwinkel.

Die Kollektivporträts sind anders geartet, denn mit ihnen versucht
Fischer das Unmögliche. Er erstellt von jeder Person ein Einzelporträt,
wobei er einen neutralen Hintergrund wählt. Er macht mehrere Auf-
nahmen, bis die porträtierte Person sie selbst ist. Er gibt kaum Anwei-
sungen und offensichtlich wählt der andere seine Position. Fischer
wartet geduldig, denn er weiß, dass die gültige Aufnahme die ist, in der
der Fotografierte sein Spiel mitspielt, indem er sich entspannt. Es ist
dies ein sehr einfühlsames System, mit dem alles Unnatürliche,
Gezwungene ausgeschlossen wird. Die Einzelporträts sind das Rohma-
terial, dessen der Künstler sich so bedient, als verteile er vorsichtig
Farbe. Und wieder baut sich ein Spannungsbogen auf. Das funktioniert
bei den Chinesischen Kollektivporträts, die an unserer westlichen
Sichtweise ausgerichtet werden. Es funktioniert auch bei den Beleg-
schaften von Unternehmen. Bei dem Projekt für Santiago de Compo-
stela porträtiert Fischer jedoch keine geschlossenen Kollektive mit ein-
deutigen Symbolen (Angehörige der chinesischen Volksarmee, Beleg-
schaften großer Unternehmen), sondern Menschen, die durch eine
über verschiedene Wege zu verwirklichende Idee verbunden sind. Für
viele geht es darum, ein Ziel zu erreichen, für Fischer ist der Weg das
Ziel. Und ich glaube, er ist sich dessen bewusst, dass er mit dem Weg
nach Santiago de Compostela seinem Œuvre neue Wege eröffnet hat.
Aus diesem Grund lohnt es sich, ihm zu folgen, aus diesem Grund ver-
pflichtet er uns, auf seine Zukunft zu vertrauen.
 
Miguel Fernández-Cid
 
published in: Roland Fischer „CAMINO“, CGAC Centro Galego de Arte Contemporanea 2003
 
Miguel Fernández-Cid is a Spanish writer, critic and curator