Eröffnungsrede KV Rosenheim 2016

Einführung von Dr.Björn Vedder zur Eröffnung der Ausstellung „Roland Fischer“ im Kunstverein Rosenheim am 24.9.2016

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Ausstellung von Roland Fischer vereint, das wird Ihnen bei einem ersten Blick hinein vermutlich schon aufgefallen sein, zwei dem ersten Anschein nach sehr unterschiedliche Werkgruppen des Fotografen. Sie zeigt zum einen – und das sehen Sie hier dann gleich links von sich – das große Kollektivportrait mit Flüchtlingen, das Anfang des Jahres in verschiedenen Erstunterkünften hier in der Gegend entstanden ist – auf der Wand vis-à-vis sind drei Editionen daraus zu sehen – und sie zeigt 5 Arbeiten aus Fischers Reihe der New Architectures, die seit 2010 entstanden sind.

Damit versammelt die Ausstellung zentrale Beispiele für das Werk Fischers. Das Portrait von 1200 Flüchtlingen setzt Fischers Reihe von Kollektiv- portraits fort, die er 1998 mit einem Portrait chinesischer Studenten begonnen hat. Zu Fischer Portraitphotographien gehören außerdem einige Reihen Einzelportraits, etwa die bekannten Pool-Portraits oder die Reihe Nonnen und Mönche.
Die New Architectures bilden zusammen mit den Photographien von Kathedralen und Fassaden die zweite Säule in Fischers Oeuvre, die Architekturphotographie.

Fischers Architekturphotographie – und das zeigen die New Architectures ganz besonders deutlich – schließt an die Tradition der avantgardistische Photographie der klassischen Moderne an (etwa von Maholy Nagy oder Rodtschenko). Diese kündigt den mimetischen Realismus der zunächst ja als objektiv begriffenen Photographie auf und setzte mit den Mitteln der modernen Malerei einen höheren, zuweilen auch als magisch bezeichneten Realismus an seine Stelle.
Zu diesen Mitteln, die sie etwa in der Malerei des Kubismus, Konstruktivismus oder Expressionismus finden, gehören z.B. die Auflösung der Perspektive, die Mehransichtigkeit des Gegenstandes – dass sie also ein Ding zugleich von verschiedenen Seiten oder aus verschiedenen Blickwinkeln sehen – die Fragmentierung oder die Montage, die Verfremdung und andere mehr. Diese Mittel wendet auch Fischer in seinen New Architectures an, in denen er verschiedene Aufnahmen eines Gebäudes am Computer so bearbeitet und montiert, das ein ganz neues Bildobjekt entsteht, dessen Konfiguration von der räumlichen Erscheinung des Gebäudes verschieden ist. Damit löst Fischer die Referenz des Bildes auf das Dargestellte auf. Das fotografierte Objekt ist meist nur noch durch den Titel zu identifizieren. Indem so die Abbildungsfunktion der Photographie verringert wird, kann ihr Bildcharakter stärker hervortreten und so entstehen Photographien, die nicht nur in den technischen Mitteln ihrer Entstehung, sondern auch in ihrem visuellen Eindruck deravantgardistischen Malerei ähnlich sind. Sie können beim Rundgang ja mal darauf achten, welche Assoziationen zu entsprechenden Bildern Ihnen angesichts der Arbeiten Fischers kommen und sich darüber austauschen, auch mit Roland Fischer. Dieser erzählt nämlich, dass er oft im Nachhinein Ähnlichkeiten etwa zu Bildern von Malewitsch oder Delaunay findet, obgleich er die Photographien nicht daraufhin bearbeitet hat, sondern in der Gestaltung eine Konfiguration gesucht hat, die ihm den Charakter oder das Wesen des Gebäudes auszudrücken schien. Fischers Architekturphotographie, so hat mal ein Kollege von mir geschrieben, zeigt die Gebäude so, als würden sie sich selbst enthalten.

Das liegt daran, dass mit dem Zurückdrängen der Referenz auf das Abgebildete und dem Hervortreten der Eigenbildlichkeit in der Photographie ein höherer Realismus verbunden ist, der die Gebäude nicht in ihrer räumlichen Erscheinung, sondern in ihrer Bedeutung zeigt. Siegfried Kracauer hat diesen höheren Realismus in seinem Essay Über Photographie mit dem Realismus eines Romans von Kafka verglichen, der die Dinge durch Fragmentierung, Verschiebung und Montage eben nicht zeige, wie sie uns in Raum und Zeit erscheinen, sondern wie sie ihrer Bedeutung nach sind.

Diese höhere Erkenntnis der Dinge im Kafkaesken Realismus setzt freilich voraus, dass wir von den Bildern auf besondere Weise berührt werden und sie einen Widerhall in den tieferen Schichten unseres Körpers finden. Diese Ansprache erreichen die Bilder – unsere Offenheit dafür vorausgesetzt – durch die irritierende Darstellung der Gebäude, die uns frappiert und herausfordert, und durch ihren malerischen Charakter, der sie wie abstrakte Gemälde erscheinen lässt.
Als abstrakte Bilder weiten die Arbeiten den Bildraum vom Raum im Bild auf den gesamten Raum aus, sodass ein visueller Raum entsteht, der über das Bild hinaus reicht und der den Betrachter auffordert, sich in ihm zu positionieren, sei es mit dem inneren Auge oder sogar physisch. Damit etabliert sich eine szenische Konstellation, innerhalb der das Bild den Betrachter bewegt.

Wenngleich diese Bewegung durch das Bild das Zurücktreten der Referenz auf das konkrete Gebäude und Hervortreten der Eigenbildlichkeit der Photographie voraussetzt, tritt in ihrem Vollzug doch eine andere Referenz in den Blick, die zum einen die Semantik des Dargestellten betrifft, zum anderen am Beispiel der Gebäude aber auch etwas ganz Grundsätzliches über Dinge oder Gegenstände überhaupt erkennen lässt: Nämlich dass diese Dinge oder Gegenstände etwas sind, das uns (wie Martin Heidegger einmal geschrieben hat) entgegen steht (als der Gegenstand, als das der Erkenntnis entgegen stehende), sich zeigt und eine gewisse Widerständigkeit hat, der wir uns beugen müssen, wenn wir die Welt erkennen wollen. Daraus folgt, dass in der Erkenntnis der Dinge die Anschauung Vorrang vor dem Denken haben muss. Genau das führen Fischers Photographien vor, indem sie uns die Dinge als Phänomene zeigen. Besonders zeigt das etwa die Arbeit über Birds Nest – das hintere Bild hier auf der Rückseite des Kollektivportraits, das überdies am deutlichsten die Nähe zu den Arbeiten von Maholy Nagy oder Rodtschenko erkennen lässt.
Und eben darin liegt das verbindende Moment der hier gemeinsam ausgestellten, auf den ersten Blick so verschiedenen Werkgruppen. Denn indem die Architekturphotographie so den Stachel der Gegenstände aufruft, trifft sie sich mit dem Kollektivportrait der 1200 Flüchtlinge, angesichts dessen der Philosoph Bernhard Waldenfels (der heute Abend auch hier ist) vom Stachel des Fremden spricht.

Das ist der Titel einer großen Studie von Waldenfels, die er der Phänomenologie des Fremden gewidmet hat, und auch der „Stachel des Fremden“ ist auch der leitende Begriff bei seiner Auseinandersetzung mit der rezenten Flüchtlingsproblematik, die Sie im Buch zu Fischers Kollektivportrait finden. Mit diesem Stachel des Fremden sind die Verunsicherung und Veränderung unserer vertrauten Erfahrungen gemeint, die uns durch die Ankunft der vielen Tausend Menschen zuteil geworden sind, die vor der Not und dem Tod in ihren Heimatländern zu uns geflohen sind. Mit ihrer Ankunft bei uns werden auch wir von ihren Nöten betroffen und gezwungen, darauf zu reagieren. Ich sage gezwungen, weil sich diese Not mit ihrem Hiersein, das uns anspricht, ob wir wollen oder nicht, nicht mehr ignorieren lässt. Sobald ich einmal angesprochen worden bin, kann ich mich diesem Anspruch nicht mehr entziehen, auch das Schweigen ist eine Antwort, denn der Anspruch des Fremden ist unausweichlich, wie Waldenfels schreibt. Wie diese Antwort ausfällt ist, eine Frage der Ethik, des persönlichen Ethos auch, des Eigeninteresses und schließlich der Politik oder Findigkeit von uns Angesprochenen. Dass eine Antwort von uns verlangt wird, können wir nicht verhindern und ich meine, dass es eine besondere Qualität von Fischers Großem Kollektivportrait mit Flüchtlingen ist, diese Unabweisbarkeit ihres Anspruchs auf unsere Antwort auf ihre Not ins Bild zu setzen.

Dabei kommen freilich wiederum die besonderen Merkmale der Portraitphotographie Fischers und insbesondere seiner Kollektivportraits zum Tragen. Das Kollektivportrait zeigt den Einzelnen in seinem Verhältnis zu Gruppe und macht dabei die Spannung zwischen diesen beiden Polen sichtbar. Denn obgleich der Einzelne immer ein Einzelner in der Gruppe ist und die Gruppe immer einer Ansammlung von Einzelnen, können wir den Einzelnen nur dann erkennen, wenn wir ihn fokussieren. Damit wird die Gruppe jedoch unscharf und gerät aus unserem Blick. Fokussieren wir hingegen die Gruppe, dann können wir in ihr den Einzelnen nicht mehr als Einzelnen, das einzelne Gesicht nicht mehr als Gesicht erkennen. Es wird zu einem Flecken in einem Teppich von Flecken. Mit Blick auf den Anspruch durch die Not der Flüchtlinge taucht damit auch unser eigenes Verhältnis zu einer Gruppe auf – als Teil einer Gruppe, die angesprochen wird, und als einzelner, der von einer Gruppe und zugleich von je Einzelnen angesprochen wird. Und so spiegelt sich in der Schärfe unseres Blicks – und in der Distanz, die wir zum Bild einnehmen – die Intensität unseres Angesprochenseins durch den Fremden. Ist das ein Anspruch an mich als Einzelnen oder an uns als Gruppe? Spricht mich eine anonyme Gruppe oder spricht mich ein bestimmter Einzelner an?

Wir merken angesichts von Fischer Arbeit, dass wir uns da nicht so leicht aus der Affäre oder hinter die Gruppe zurückziehen können, denn wir erkennen ein Gesicht bei aller individuellen Unschärfe auch aus der Ferne als ein Gesicht. Wir können an dem Gesicht eines anderen Menschen, der uns anblickt, kaum vorbeischauen, sondern fühlen uns genötigt, zurückzublicken und können uns dem nur mit Gewalt enthalten. Wenn wir in dieses Gesicht jedoch zurückblicken, dann haben wir das Gefühl, einen anderen Menschen anzuschauen und von ihm angeschaut zu werden. Das ist die sympathetische Wirkung des Gesichts mit der alle Portraitkunst arbeitet. Sie eröffnet einen Dialog zwischen dem Portrait und uns, bei dem wir uns fragen, wen es darstellt – und wer wir sind.

Dabei tritt angesichts der Portraits Fischers gerade dieser zweite Bezug, also der auf uns selbst, in den Vordergrund. Denn seine Portraits, deren stilistisches Vokabular oft mit dem der Düsseldorfer Schule verglichen worden ist, drängen die traditionelle Abbildfunktion des Portraits zurück. Sie zeigen das Gesicht nicht als Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit und ihres Gefühlslebens, sondern als eine Fassade, hinter die wir nicht blicken können, weil alle bedeutungsstiftenden Elemente getilgt worden sind. Diese Abweisung der einfühlenden Interpretation unterscheidet Fischers Arbeiten von der romantischen Tradition des Portraits und den vielen Gesichtern oder Ich-Plakaten, die wir aus der Werbung kennen. So tritt auch hier, wenngleich weniger stark als in den New Architectures, die Referenz auf das Abgebildete des Bildes zurück während sein Bildcharakter hervor tritt und selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird.
Mit diesem Zurückdrängen der Abbildfunktion und dem Hervortreten des Bildcharakters tritt hier zugleich unser eigener Umgang mit Portraits in den Blick. Umso weniger wir fragen können, wer das ist, den wir im Bild portraitiert finden, desto stärker werden wir auf die Frage gestoßen, wer wir sind – der anderen Seite in dem Dialog, das das Portrait stiftet – und darauf, was wir tun, wenn wir Portraits betrachten. Wir können dann bemerken, dass wir in einem Portrait nicht nur einen anderen anschauen, der uns anschaut, sondern dass wir ihn so anschauen, wie wir uns sehen würden, wenn wir in einen Spiegel blickten. Das Portrait ist ein Spiegel, so hat das Nikolaus von Kues einmal formuliert, in dem wir einen anderen so anschauen, als wären wir es selbst. Die Blickbeziehung zwischen Portrait und Betrachter ist also im doppelten Sinne identifikatorisch: wir identifizieren den Portraitierten nicht nur als den oder den, sondern wir identifizieren ihn auch mit uns, oder uns mit ihm.

Das ist für den Anspruch der Flüchtlinge an uns, auf ihre Not zu reagieren, natürlich nicht folgenlos. Denn Fischers Kollektivportrait zeigt ihn nicht als den Anspruch von irgendwelchen Fremden, zu dem wir uns zwar verhalten müssen, der uns aber letztlich– und auch das wäre ja eine Reaktion – auch kalt lassen könnte, sondern so, als ob wir diesen Anspruch an uns selber stellten und zwar durch die identifikatorische Beziehung der Blicke, die das Portrait stiftet.
Dass dieser Anspruch der fremden Not von vielen heute als existenzielle Gefährdung ihrer selbst verstanden wird, liegt also nicht nur in einer antizipierten Konkurrenz um Transferleistungen, sondern auch an der Verunsicherung unseres Selbstverständnisses, das aus der identifikatorischen Beziehung auf die Flüchtlinge resultiert. Der Soziologe Stephan Lessenich hat das in seinem Betrag für Fischers Katalog mit Blick auf unsere Prinzipien der Leistungsgesellschaft, des Wohlfahrtstaates oder des modernen Menschenbildes ausgeführt. Dabei kann der Flüchtling als Musterbeispiel des „modernen Menschen“ dienen, weil er wie kein anderer die Qualitäten der „Initiative und Innovation, der Bewegung und Beweglichkeit, der Aktivität und Flexibilität“ in sich vereinigt und uns so auf erschreckende Weise vorspiegelt, was wir in der Aktivgesellschaft von uns selbst verlangen.

Der Stachel des Fremden trifft jeden dort, wo er am verletzlichsten ist, und das macht Fischers Kollektivportrait nicht nur zu einer Arbeit über Flüchtlinge, sondern letztlich über uns selbst. Im Spiegel der über tausend Gesichter aus Syrien und Afghanistan, aus Somalia, Pakistan und dem Congo schauen wir den Fremden an, als wären wir es selbst.

Björn Vedder wurde 1976 in Brakel geboren und lebt als Schriftseller und Kurator in München. Seine Arbeiten befassen sich mit zeitgenössischer Kunst und Literatur.