Die Wirklichkeit der Kunst Roland Fischers

 

Meinrad Maria Grewenig

2012

 

„Salamanca, 2007“ von Roland Fischer erscheint bei flüchtigem Betrachten wie ein Blick in das reiche Flamboyantgewölbe der Kathedrale. Bei näherem Hinschauen integriert das Bild die Ansicht der Außenfassade in die Sicht des Innenraums. Eine neue und umfassende Anmutung der Gotik entsteht unmittelbar. Die Fotografien Roland Fischers wecken direkt Aufmerksamkeit, machen neugierig und ziehen das Interesse magisch auf sich. Trotz der hohen ästhetischen Ansprache und ihres anziehenden Auftritts verleiten die Arbeiten zum intensiven Hinschauen. Im Prozess der Bilderfassung erschöpfen oder erledigen sich die Fotografien auch dann nicht, wenn man sich über einen langen Zeitraum immer wieder mit diesen Bildern auseinandersetzt. Die Größe des Formats setzt immer gleichzeitig einen doppelten Seh- und Analyseprozess in Gang. Einerseits ist man bestrebt, durch räumliche Distanznahme zum Werk das Gesamte des Bildes zu erfassen, andererseits tritt man nahe heran und folgt der Spur der Bildindizien, um die Sinnhaftigkeit des Dargestellten auszuloten. Diese Fotografie setzt einen aktiv sich bewegenden Betrachter voraus. Die Bilder sind in ihrem Format groß, bezogen auf das menschliche Betrachtungsfeld, und unterscheiden sich damit grundsätzlich von jeder Form einer Dokumentations- und Reportagefotografie. Der Blick auf das Bild im simultanen Sehen erfordert gleichzeitig einen Prozess des sukzessiven Auslotens. Die Fotoarbeiten Roland Fischers sind im um- fassenden Sinne Bildereignis.

Nähert man sich dem Werk Roland Fischers aus den Jahren 1984 bis 2012, so lässt es sich in sieben große Gruppen oder Serien gliedern: die „Nuns and Monks“, die „Los Angeles Portraits“, die „Chinese Pool Portraits“, die „Collective Portraits“, die „Cathedrals and Palaces“, die „new architectures“ und die „Façades“. Diese sieben Werkserien lassen sich zwei großen Themengruppen zuordnen:

die Ansichten von Menschen und die Ansichten von Architekturen. Sieben Werkserien unterschiedlicher Thematik, zwei Metagruppen „Menschen“ und „Architektur“ organisieren einen künstlerischen Weg, dessen Bewegung vom Einzelnen zum Gesamten und wieder zum Einzelnen führen. Immer ist es das Thema des Menschen, seiner Befindlichkeit, seiner Repräsentanz und seiner Verortung, die Roland Fischer antreibt.

Die Mönche und Nonnen sind bereits durch ihre spezifische Tracht, die sie formal rigoros von unserer alltäglichen Welt unterscheiden, exponiert und formal gekennzeichnet. Die Kapuze in N 31 von 1984 (siehe Seite 43) isoliert die Fläche des Gesichts radikal vom übrigen Bild und lenkt den Blick auf Augen, Nase und Mund des Mönchs. Dieser Prozess der bildlichen Konzentration wird realisiert durch die Ordenstracht, deren Kapuze hochgenommen den Kopf umhüllt. Roland Fischer vergrößert die Gesichtsfläche ins „Unendliche“, sodass der Mönch en face blickt, dem Betrachter gegenübersteht, diesen zurücktreten lässt, um das Bild zu erfassen, und so die physische Distanz des Betrachters zu dem Bildnis vergrößert. Durch seine „monumentale Größe“ besitzt dieser Mönch eine enorme Präsenz. Das Bild vermittelt eine Dimension der Wirklichkeit, die die Ausdruckstiefe der Abgeschieden- heit und Konzentration des menschlichen Geistes unvermittelt offen legt. Es geht dem Künstler nicht um die Identifizierbarkeit der Person des Mönchs N 31. Der Mönch wird in dem Bild zum Inbegriff der Kontemplation und ihrer Präsenz. Die Bilder thematisieren allgemein Dimensionen menschlicher Befindlichkeiten.

In den „Collective Portraits“ beschreitet Roland Fischer auf den ersten Blick einen anderen Weg. Er vervielfältigt die Porträts etwa in den „Pilgrims“ (siehe Seite 86/87) auf 1050 Ansichten. Die große Zahl suggeriert eine große Vielfalt, wobei sich das Bild zu einem „Teppich“ von Gesichtern zusammenfügt, der wegen seiner Größe in der Installation dieses Werkes den betrachtenden Menschen ganz umgibt. Der Gesamteindruck des Bildes aus der Distanz und die Detailbetrachtung des Bildes aus der Nähe vermitteln zwei Erfahrungszustände, die simultan im Bild anwesend sind, die für den Betrachter nur sukzessiv und mittels seiner Erinnerung in Einklang gebracht werden können. Sukzession und Simultanität sind in ihrer Realitätserfahrung soweit aufeinander gebracht, dass sie nicht deckungsgleich sind, aber sich gegenseitig zur Formulierung der Bildaussage dialektisch bedingen. In diesem Zwischenraum des Geschehens siedelt der Erfahrungsraum der Bilderkenntnis der Kunst Roland Fischers.

Diese Gestaltungsdimension tritt ganz zentral und bildkonstituierend in den „Cathedrals and Palaces“ hervor, die von Beginn des 21. Jahrhunderts an entstanden sind. Voraussetzung dieser Bilder ist neben der Fotoaufnahme durch den Künstler die elektronische Postbearbeitung der Einzelbilder, die nun übereinandergelegt werden. In „Barcelona, 2004“ (siehe Seite 102) sind der Innenraum der Kathedrale von Barcelona und deren Außenansicht so miteinander verbunden, dass ein Vollbegriff dieser gotischen Architektur entsteht. Das Absehen von dem topografischen Umfeld der Architektur führt einerseits mitten hinein in das Bild der Kathedrale von Barcelona. Dieser Erkenntnisweg wird andererseits jedoch nicht über die Vergewisserung seiner Situation geschaffen. Roland Fischer löst die Ansicht von der Lokalisierung ab und fügt sie in viel umfassenderem Sinne neu zu einem Bild zusammen. Er meidet dabei die fest im Substrat menschlicher Wiedererkennung verankerten Schemata, ohne die Erkennbar- keit zu verwässern, und setzt eine neue, frische Strategie des erkennenden Zugriffs auf die Wirklich- keit ein. Indem der Betrachter das Bild zu entziffern sucht, tastet er sich von Sinnzusammenhang

zu Sinnzusammenhang und lernt, dass Roland Fischer Sinnbezüge der Großarchitekturen und ihrer leiblichen Erfahrung von sukzessivem Erkennen des Betrachters in die simultane Struktur des Bildes integriert hat. Die Rekonstruktion der Entstehungsstrategien des Bildes sollte nicht verdecken, dass dabei hochspannende und reizvolle Bilder entstanden sind, welche Vorstellungen von Gotik und der Kathedrale von Barcelona in bis dahin nicht entdeckbaren Dimensionen offenbaren.

In den „Façades“ (ab Seite 132) ist jede Form und jede Idee der Wiedererkennbarkeit an Fassaden getilgt. Das, was der Serientitel nennt, ist mit dem Fundus aller Kenntnisse von Bildern zwar nachvoll- ziehbar, aber nicht im Bild verifizierbar. Die Tatsache, dass diese Werkgruppe Ergebnisse versammelt, die „Entdeckungen“ Roland Fischers an Fassaden sind, wird als Faktum vorausgesetzt. Roland Fischer spricht hier zwar von den Dimensionen der Globalisierung, die es ermöglichen, dass ein weltweites Repertoire von Bildern und Formen entsteht, aber er lässt dies in seinem spezifischen Prozess der Abstraktion außen vor. Diese Abstraktion ist neu und unterscheidet sich substanziell von der Abstraktion am Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren wurde in der Kunst von der Gegenständ- lichkeit der Welt abgesehen, und die Künstler vereinfachten die Abbildhaftigkeit der Welt radikal, sodass aus den Gestaltungsmitteln der Kunst neue Wirklichkeiten entstanden. Roland Fischer greift mit seiner Form der Abstraktion nicht den Verband der gegenständlichen Zusammenhänge an, um diesen neu zu konfigurieren, sondern er löst den Erfahrungssatz aus Orthaftigkeit und Lokalisierung auf und sieht von ihm ab. Er abstrahiert die Bilder der Welt auf eine neue Elementarität, die zwar in den Fassaden ihre Entstehungswurzeln hat, aber im Akt des künstlerischen Setzens zu neuen Dimen- sionen vorstößt. In dem Dargestellten steckt abbildhaft die gesamte Wirklichkeit, entkleidet von ihrem Ort, ihrer Verortbarkeit und ihrer konkreten lokalisierbaren Identifizierbarkeit. Für Roland Fischer ist das Einzelbild selbst Medium eines seriellen Prozesses, der das Konzept bis hin zu seinen Grenzen auslotet und adelt. Die Einzelbilder sind vollständige Ereignisse und Teil eines übergeordneten Sondierungskonzeptes. Roland Fischer öffnet damit ein großes neues Tor der Kunst. Er gestaltet Bilder, die auf Kunst verweisen, so wie sie bereits gesehen und gestaltet wurden, die aber Fotografien von bestimmten Orten dieser Welt sind, ohne dass sie abfotografierte Kunst oder deren Ausschnitte wären. Roland Fischer stellt mit seinen Bildern diese Kunst neu her. Der Prozess des Entdeckens und des thematischen Abstandes zum Nachbarwerk ist dabei ganz entscheidend. Roland Fischers Kunst wurzelt tief in den medialen Möglichkeiten unserer Welt und Zeit. Sie operiert mit Elementen der Realität, spitzt diese jedoch radikal zu, isoliert sie und fügt sie im Gestaltungsprozess neu zusammen. So entstehen umfassende neue Vollbegriffe einer Anmutung von Wirklichkeit durch Gestaltung, die direkt und sofort sinnfällig werden und das Erkenntnis- und Erfahrungsspektrum von Welt umfassend erweitern. Roland Fischer abstrahiert mit seiner Kunst, aber er synthetisiert gleichzeitig neu. Er meidet dabei konsequent die im Menschen verankerten Wiedererkennungsstrategien ohne deren Erkennbar- keit aufzugeben. Roland Fischer setzt auf eine neue, frische Strategie des erkennenden Zugriffs auf das Bildliche. Diese eröffnet neue Dimensionen unserer Erkenntnis und Sinnstiftung. Im Entstehungs- kontext der Kunst Roland Fischers begegnen sich drei künstlerische Dimensionen: 1. Die Möglichkeit des technischen künstlerischen Mediums Fotografie, das einen spezifischen Augenblick, einen Moment, einen Ereignisablauf in der Fotografie festhält. 2. Das sich mit diesem Foto verbindende künstlerische Konzept, das umfassend die strukturierte Organisation des Zeitablaufs bestimmt, die zur Themenfindung und schließlich zur Fotografie selbst führt. 3. Die in der Serie gründenden Möglichkeiten, welche alle die künstlerischen Zustände ausloten, die schließlich die Individualität der einzelnen Kunstwerke ausmachen. Roland Fischer hat im Konzeptionsprozess seiner Kunst diese drei Dimensionen so zusammengeführt, dass sie umfängliche eigene kontrollierte Aufgabenkreise seiner Kunst sind, aber so dicht aufeinander zugeführt werden, dass sie auf das Engste miteinander verwoben und kausal aufeinander bezogen sind. Zu jedem Augenblick sind es alle drei Dimensionen, die Roland Fischer vollständig kontrolliert und gestaltet. Fotografiekunst ist für ihn einerseits das Herstellen eines perfekten Bildes mit medialer Präsenz, andererseits aber auch gleichzeitig die Beherrschung dieses Prozesses, der zum Bild führt.

 

Meinrad Maria Grewenig

1954

geboren in Saarbrücken

1983

Promotion an der Universität Salzburg in Kunstgeschichte, klassischer Archäologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften

1984 – 1992

Saarland Museum Saarbrücken, seit 1989 Stellvertretender Direktor

1992 – 1999

Direktor des Historischen Museums der Pfalz in Speyer, Geschäftsführender Vorstand der Museumsstiftung

Seit 1999

Generaldirektor | CEO des Weltkulturerbe Völklinger Hütte – Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur

Seit 2011

Geschäftsführender Vorstand der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz

 

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