Der singuläre Blick im Plural

Bernhard Waldenfels

2016

Wer vor der Bilderwand von Roland Fischer steht, sieht sich konfrontiert mit etwa 1000 Fotoportraits von Studierenden aus Israel. Es ist kein Gruppenbildnis, auf dem Individuen sich vereint in Pose setzen würden, sondern ein Kollektivportrait, auf dem Einzelpersonen verbindungslos nebeneinander und untereinander aufgereiht sind, jede für sich dem Betrachter zugewandt. Das Fehlen einer Querverbindung zwischen den Portraitfiguren, ohne die der Bezug auf Israel bloß verbal bliebe, macht die Frage nach dem sozialen Band umso dringlicher. Wen oder was haben wir als Betrachter vor Augen, wer oder was blickt uns entgegen? Handelt es sich um eine bloße Vielzahl von Gesichtern, die erst durch Zählung und Erzählung zu einer Gesamtheit wird? Ähnliches kennen wir schon von der in den USA und in China entstandenen Serie der „Pool-Portraits“ des Künstlers. Wir nähern uns aus dem Wasser auftauchenden Körperbüsten, hinter denen sich nichts verbirgt als der reine Anblick. Lässt sich diese Darstellungsweise erklären als eine zeitgemäße Form von Entsubjektivierung, Versachlichung, Neutralisierung, von reiner Präsenz? Bevor ich mich in Theorien verliere, ziehe ich es vor, die Mahnung zu beherzigen, die Maurice Merleau-Ponty einst seiner Phänomenologie der Wahrnehmung mitgegeben hat: „Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen.“ [1]  Die Blickkonstellationen, mit denen wir es zu tun haben, sprechen aus sich selbst, allerdings weniger eindeutig, als wir es uns wünschen mögen. Die Kunst ist nicht dazu da, das Rätsel der Sichtbarkeit zu lösen, sondern das Rätselhafte aufzuzeigen.

Was oder wen sehen wir also in den Portraitreihen? Halten wir uns an die strenge Rasterung des Blickfeldes, die einer visuellen Minimal Art entspricht, so entdecken wir eine Vielzahl von Gesichtern; doch kein Gesichtsträger ist er selbst, jeder bestimmt sich relativ als Inhaber einer Stelle x auf der Reihe y, wobei die Reihen wiederum von links nach rechts gelesen werden können wie im Lateinischen und Griechischen oder aber von rechts nach links wie im Hebräischen und Arabischen. So oder so ist ein jeder ein Anderer oder eine Andere kraft purer Differenz allein durch seine Position in einem System.

Doch diese serielle Identität stößt im Falle menschlicher Gesichter auf ihre Grenzen. Jedes Gesicht ist das eines aufgrund von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe bestimmten Anderen. Ein jeder unterscheidet sich auf seine eigene Weise vom Anderen. Jeder und jede zeigt sich als ein Mann oder eine Frau, als ein Schwarzer oder eine Weiße, aber doch als eine austauschbare Variable, wenn man es bei dieser Sichtweise belässt.

Wir begegnen außerdem einer Markierung, die von der positionellen Identität des Rasterverfahrens abweicht, nämlich dem diskret hinzugefügten Namen. Ihn verdankt der Namensträger anderen; auf ihn hört er als auf einen Rufnamen, bevor er ihn selbst ausspricht. Der Eigenname ist in seinem Kern ein Fremdname, ein Mutter- und Vatername. Der Name ist mehr als ein Etikett, als ein Markenzeichen, er steht für etwas Singuläres: Wer Moshe oder Martin, Rabin oder Sadat heißt, nennt sich so und nicht anders, selbst wenn andere den gleichen Namen tragen. Unter seinem Namen übernimmt der Einzelne Verantwortung, geht zur Wahl, verstößt gegen Gesetze oder verliebt sich. Unter diesem Namen wird er gerufen, auch ertappt: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ Die Dekontextualisierung des Erfahrenen stößt hier an eine Grenze. Der Name hat eine Geschichte. Dies ist auf eine besondere Weise ausgeprägt in der jüdischen Tradition, wo Namen wie Isaak („Er wird lachen“) oder Ismael („Gott erhört“) eine Verheißung enthalten.[2] Aber die Geschichte des Namens hinterlässt ihre Spuren auch in säkularen Lebensformen, so wenn polnische Einwanderer in Deutschland oder marokkanische Einwanderer in Frankreich durch ihren Namen nicht nur bezeichnet werden, sondern oft auch gezeichnet sind. Selbst K., die Leitfigur in Kafkas Das Schloß, versinkt nicht in purer Namenlosigkeit; das schlichte K. ist Ausdruck einer Fremdheit, die dem Eindringling bei seinem Empfang entgegenschlägt. Der Name Niemand (outis), den Odysseus sich zulegt, ist nur eine Ausflucht. Da die Gesichter, die uns auf der Bildtafel begegnen, mit einem Namen versehen sind, stehen sie also nicht bloß für irgendjemanden, der als jemand seine Rolle spielt und seinen Status ausspielt, sondern sie verweisen auf einen ganz bestimmten Menschen, auf Diesen-da und Diese-da, die im Zeigen und Sich-Zeigen an Unsagbares rühren.

Nun stellt sich uns die Frage: Was bedeutet es, ein Kollektivportrait zu sehen? Sehen wir schlicht ein Kollektiv, das einer arithmetischen Anzahl entspricht wie die Bevölkerung einer Stadt, oder sehen wir nicht vielmehr Diese-da als Glieder eines Kollektivs? Dies hängt von der Art unseres Blickes ab, nämlich davon, ob dieser Blick die Singularität der Mitglieder eines Kollektivs berücksichtigt oder nicht. Für den distanzierten Blick dessen, der eine Parade abnimmt, der die Arbeitskolonne eines Zwangslagers beaufsichtigt oder lediglich eine Betriebsprüfung vornimmt, kommt es darauf an, dass alle vollzählig zur Stelle sind. Der beherrschende Blick fällt wie aus der Vogelperspektive auf die Gesamtheit. Doch richten wir den Blick auf unsere Bilderwand, so können wir nicht verhindern, dass der wandernde Blick hier oder dort hängen bleibt. Singularität bedeutet nicht bloß, dass jeder seinen Platz (topos) einnimmt, sie schließt wie beim platonischen Sokrates eine Atopie (atopia) ein, eine Ortlosigkeit inmitten der Verortung. Wo bin ich, wer bin ich? Steckt nicht in jedem Einzelnen ein Funken des Sokratischen? Der eigene Blick verfremdet sich gleich der eigenen Rede, wenn sich etwas unserem Zugriff entzieht und der eigene Blick oder die eigene Rede von jemand anderem provoziert wird.

Mit der Fremdheit des Anderen gerät unsere Bildbetrachtung an einen Wendepunkt. Ist das Gesicht, das wir vor uns sehen, in erster Linie etwas, das wir sehen, oder eröffnet sich in ihm nicht vielmehr ein fremdes Blickfeld, sodass ich mich mit fremden Augen angeblickt und aus fremdem Mund angeredet weiß, ob ich es will oder nicht? Erst ein dialogischer Fehlschluss verwandelt den fremden Blick in einen Wechselblick: Ich sehe dich, wie du mich siehst, sodass ich am Ende in dir niemand anderen erblicke als mich selbst – und für dich würde dasselbe gelten. Seit Hegel wird dieser sublime Prozess wechselseitiger Aneignung als ein Kampf um Anerkennung beschrieben. Der fremde Blick und das fremde Wort finden sich aufgehoben in einem gemeinsamen Logos, der alle Fremdheit tilgt. Der Geist hat den Kampf schon gewonnen: „Ich das Wir, und Wir, das Ich“. [3] In diesem dialektischen Wechselspiel zwischen ego und alter ego denkt man den Anderen zwar, doch ohne sich der Erfahrung des Fremden auszusetzen. Selbst die Wechselliebe kann, psychoanalytisch formuliert, in einem „Narzißmus zu zweien“ versanden.[4] Jacques Lacan wehrt sich dagegen, indem er auf den Bahnen Freuds dem Anderen ein Gewicht einräumt, das durch keine Dialektik auszubalancieren ist. So erklärt er in einem seiner späten Seminare: „Du erblickst mich niemals dort, wo ich dich sehe“. Umgekehrt gilt: „Was du erblickst ist niemals das, was ich sehen möchte.“[5] Der Blick als das Ereignis des Sichtbarwerdens fällt niemals zusammen mit den Gehalten unserer Sehakte. Die Fremdheit des Anderen, seine Alterität, bekundet sich einzig im Antworten auf den fremden Appell, auf das fremde Begehren, in einem Antworten, mit dem der Antwortende dort beginnt, wo er nie war und nie sein wird.[6] Der Blick kommt aus der Ferne. Er hat einen blinden Fleck, der sich nicht in den Spiegelblick eines eigenen Sehens überführen lässt. Im Blick, der auf die Herausforderung eines fremden Blicks antwortet, überraschen wir uns selbst.

Damit geraten wir an eine Stelle, wo die europäische Kultur der Sinne, die alles andere als homogen ist, auseinanderdriftet. Für das griechische Denken sind die Fremdheit meiner selbst und die des Anderen aufgehoben in einem gemeinsamen, allumfassenden Logos. Jeder hat teil an ihm, sofern er in der Autopsie des eigenen Blicks aus den „Sachen selbst“ (auta ta pragmata) schöpft, während das Wissen – wie das Zeugnis vor Gericht für jene, die nicht dabei waren – aus dem Hörensagen (ex akouēs, ex auditio) stammt und somit nichts weiter bedeutet als ein Wissen aus zweiter Hand. [7] Das Gesicht (prosōpon), mit dem uns jemand an-blickt, spielt dann eine Nebenrolle. Wir sehen im Lichte der Sonne, doch nicht im Angesicht der Sonne. Im Jüdischen dagegen ist das fremde Antlitz (panim), kulminierend im göttlichen Antlitz, ein Anblick, der uns ähnlich trifft wie die vernommene Anrede. Emmanuel Levinas hat die Urszene des großen Anderen transponiert in die Sphäre des menschlichen Anderen. Das fremde Gesicht, das sich uns zeigt, indem es sich entzieht, ist ein sprechendes Gesicht: Le visage parle. Es setzt allen Zugriffen einen ethischen Widerstand entgegen: „Du wirst keinen Mord begehen (tu ne commettras pas de meurtre)“. [8]

Kehren wir zum Anfang zurück. Im menschlichen Angesicht, in dem der fremde Blick sichtbar wird und doch unsichtbar bleibt, steckt eine Zweideutigkeit. Der fremde Blick lässt sich nur fassen im Durchgang durch ein Sehen, das als etwas auffasst, was nicht etwas ist, vergleichbar einem  Sagen, das über jemanden spricht, der oder die mehr ist als etwas Gesagtes. Die Bilddarstellung gerät ins Zwielicht, wenn sie wahrmacht, was Paul Klee der Malerei zuschreibt, nämlich Unsichtbares sichtbar zu machen, was nur einer Form von „indirekter Malerei“ gelingt. [9] Die Fotokunst, wie Roland Barthes sie in seinen Bemerkungen zur Fotografie vorstellt, [10] versucht auf ihre eigene Art ähnliches, wenn sie von der punktuellen Wirkung eines Eindrucks, dem punctum, zum studium als einer kundigen Beschäftigung mit dem Gesehenen überwechselt, ohne das Pathos des ‚bestechenden‘ Initialeindrucks vergessen zu können. Der Autor exemplifiziert dies anhand des Fotos seiner verstorbenen Mutter, das, wie jedes Foto, das mehr sein will als eine schlichte oder auch raffinierte Wiedergabe, an die Abwesenheit des Todes rührt. Ohne die künstlerische Verarbeitung des Gesehenen bliebe es im äußersten Fall beim bloßen Blickschock oder beim visuellen fast food. Doch die Bildkunst und speziell die Fotokunst bewegen sich auf einem schmalen Grad, wenn sie sich auf menschliche Erfahrungen einlassen. Bilder lassen sich als Dokumente nutzen, die Fernes oder Vergangenes festhalten und wiedergeben. Sie weisen aber auch Züge eines Zeugnisses auf, in dem Fremdes und Fernes stellvertretend zur Sprache und in den Blick kommen und Erinnerungen wachgehalten werden. Der Zeuge ist mehr als ein Reporter. Man wird zum Zeugen, indem man sich in die zu bezeugenden Erfahrungen verwickelt sieht. Dies gilt für Szenen alltäglicher Gewalt auf unseren Straßen, doch im höheren Maße noch für unheilvolle Geschehnisse wie den Holocaust, von dessen Opfern, über alle künstlerische Gestaltung und historische Erforschung hinaus, ein Darstellungs- und Erinnerungsanspruch ausgeht. Nicht das Gleiche, aber ähnlich Unvergleichliches findet sich an anderer Stelle und zu anderer Zeit, so etwa in dem Aghet der Armenier. Es besteht die Neigung, die „Nacktheit“ des fremden Gesichts, die jeden kulturellen und historischen Verständniszusammenhang sprengt, mit Masken und Bildern zu überdecken. [11] Was Levinas dagegen setzt, ist eine „konkrete Abstraktion“[12], die sich der konkreten Gegebenheiten nicht etwa einfach nur entledigt, sondern vielmehr die unbedingte Singularität den weltlichen und sozialen Bedingungen entreißt, ohne das, wovon sie absieht, aus dem Blick zu verlieren.

Wir enden bei einer Bildverfertigung, die ins Bild bringt, was mehr ist als Bild. Zugleich sträubt sich die Singularität des Blicks, der uns aus dem Bild entgegenschlägt, gegen die Suche nach einem Wir, das alle Fremdheit totalitär vereinnahmt. Aus der Tatsache, dass Einzelne auf je verschiedene Weise ‚wir‘ sagen, ergeben sich immer neue Blickkonstellationen. Jede Singularität ist eine Singularität im Plural.


[1]
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (frz. 1945), S. 82.

[2] Vgl. Stéphane Mosès, Eros und Gesetz, München 2004, Kap. 7: „Der Griffel des Enosch“.

[3] G. F. W. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke 3), Frankfurt/M. 1973, S. 145

[4] Jean-Bertrand Pontalis, Nach Freud, Frankfurt/M. 1968 (frz. 1965), S. 49.

[5] Jacques Lacan, Das Seminar, B. XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978 (frz. 1964), S. 109.

[6] So lautet der Kerngedanke meines Buchs Antwortregister, Frankfurt/M. 1994.

[7] Vgl. Platon, Gorgias 459b bzw. Theaitet 201c.

[8] Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg, München 1987 (frz. 1961), S. 87, 285. Vgl. dazu vom Verf. „Das Gesicht des Anderen“, in: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt/M. 2005. Der Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem sollte nicht, wie einst bei Leo Schestow, überzeichnet werden. Es gibt auf beiden Seiten viele Mischformen, ganz zu schweigen von ostkirchlichen, islamischen und fernöstlichen Traditionen; doch verschiedene Akzentuierungen erzeugen eine interkulturelle Spannung, die in dem Kontrast von Blick und Stimme ihren emblematischen Ausdruck findet.

[9] Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 2003 (frz. 1964), S. 308.

[10] Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt/M. 1989 (frz. 1980).

[11] Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 102.

[12] Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992 (frz. 1978), S. 205.

 

Bernhard Waldenfels wurde 1934 in Essen geboren und war bis zu seiner Emeritierung 1999 Ordentlicher Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt der Phänomenologie, der er in seinen Arbeiten eine eigene, nämlich responsive und leiblich verankerte Form gegeben hat.

Bernhard Waldenfels, Der singuläre Blick im Plural
in: Roland Fischer “Tel Aviv – Israeli Collective Portrait”, published by Hirmer, Munich 2016