Das Problem der Freiheit in Kunst und Politik

Vortrag, gehalten im März 2025 in München (gekürzte Fassung)

“Initium ut esset, creatus est homo”

(Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, De Civitate Dei 12/20)

Um eine beliebte rhetorische Figur aufzugreifen bzw. auf unser Thema zu beziehen, nämlich: wer war zuerst da?: das moderne Ich oder die liberale Demokratie (die auf einer modernen Konzeption von Freiheit fußt), so lässt sich für diese für gewöhnlich offen bleibende Frage nach der Henne und dem Ei hier eine klare Antwort formulieren: selbstredend das Moderne Ich, in soziologischer Terminologie gerne auch Subjekt oder Akteur genannt. Denn natürlich fällt nicht irgendwie eine neue Staatsform vom Himmel und schon verhalten sich die Menschen selbstbestimmt und frei; gerade die moderne Demokratie weist eine ihr vorausgehende umfängliche Geistesarbeit von Gelehrten, von Dichtern und von Denkern über viele Jahrhunderte auf, währenddessen das feudale Mittelalter und beispielsweise die Inquisition überwunden und überstanden werden mussten, um zu dem modernen Selbst-Verständnis, was ein Individuum auf dieser Erde sein sollte, zu kommen.

Einige der in ihr verwirklichten und mit einer liberalen Demokratie assoziierten Begriffe sind in den verschiedenen Verfassungen z.B.: “Freiheit und Gleichheit”, “Recht auf Eigentum” (Frankreich), “Meinungs- und Pressefreiheit” (Weimar), “Recht auf Leben, Streben nach Glück” (USA), “Menschenwürde” (BRD), oder einfach das “Recht, Rechte zu haben” (wie es Hannah Arendt formuliert hat).

Wie nun aus einem “Niemand” (Untertan) über die vielen Jahrhunderte hinweg ein sich mehr und mehr selbst-bewusster Mensch (Bürger) wurde, könnte man sicherlich anhand einer politisch-historischen Linie darstellen. Sozusagen das Subjekt auf seiner langen Reise zu sich selbst. Zum Beispiel so: “Antike, Mittelalter, Westfälischer Frieden, Aufklärung, amerikanische Revolution, französische Revolution…” usw..

Doch auch in der Kunst lässt sich eine solche historische Entwicklungslinie heranziehen. Denn Kunst ist nie statisch – sie reagiert auf gesellschaftliche, technologische und philosophische Veränderungen und ist somit auch immer ein Spiegel ihrer jeweiligen Zeit. Der Metamorphose des menschlichen Individuums könnte man so die Beobachtung einer Veränderung der Darstellung des Menschen zur Seite stellen. Denn das immer individualisiertere menschliche Antlitz in der Malerei stellt naturgemäß eine Analogie zu der Entwicklung dar, die den Menschen im Verlauf der langen Jahrhunderte mehr und mehr zum Subjekt und zu einem sich selbst bewussten Akteur hat werden lassen. Jedenfalls in unserem europäischen Kulturraum. Und bekanntlich ist diese uns geläufige Auffassung des Menschen als Individuum mit seinen Rechten und seiner Würde in anderen Kulturräumen keinesfalls die gleiche. Und sie war es in unserer Hemisphäre in früheren Zeiten ja auch nicht. Dass diese Fokussierung auf den Menschen als eine Entität, als autopoietisches System überhaupt gedacht werden konnte, geht auf einen entscheidenden Schlüsselmoment in der Geschichte des westlichen Denkens zurück: die sogenannte monotheistische Wende, von Thomas Mann exemplarisch herausgearbeitet in seiner Roman-Tetralogie “Joseph und seine Brüder” und die er an dem Augenblick, als Abraham erstmals den Einen Gott (JHWH) in sich denkt, festmacht. Und auf diesen Moment lässt sich unser abendländischer Begriff des Authentischen, des einen Ursprungs, des einen Gottes zurückverfolgen und dies führt letztlich zu einer Umgestaltung der Weltanschauung, sodass man auch den Menschen, das Subjekt, das aktivierte Individuum in unserer westlichen, jüdisch-christlichen Kultur als einzigartig, als eine Singularität, ansehen wird.
Damit gerät auch ein relativ neuer Terminus ins Blickfeld, der erst am Ende dieses Prozesses der Subjektwerdung virulent wurde: der Begriff der Identität, der seither auch in der Kunst eine immer zentralere Rolle einnimmt.

Die subjektive und die soziale Identität waren in früheren Zeiten, als der gesellschaftliche Mikrokosmos noch intakt war, in aller Regel kein Thema: jeder Untertan, jeder Bürger, hatte seinen ihm meist durch Geburt schon zugewiesenen Platz. Der potentielle individuelle Bewegungsradius und die Möglichkeiten zur Interaktion mit anderen Menschen waren sehr beschränkt. Für das seelische Gleichgewicht sorgten religiöse Riten wie Kirchgang und Beichte, sowie identitätsstiftende Arbeitsformen.

Doch dann, vor etwas über 200 Jahren, begannen jahrhundertealte soziale Strukturen und damit einhergehend psychologische Sicherheiten zu bröckeln bzw. sich aufzulösen. Martin Heidegger hat zu solchen Peripetien in der Geschichte die brillante Beobachtung gemacht, dass Dinge dazu tendieren, erst dann (Zitat) “in den Fokus der Aufmerksamkeit zu gelangen, wenn sie am Verschwinden sind, kaputtgehen, anfangen sich komisch zu verhalten oder sonstwie problematisch werden”. (Zitat Ende)
Also erst als sich große Veränderungen in den zunächst westlichen Gesellschaften ergeben hatten (Stichwort “Industrialisierung und Fließbandarbeit”, Stichwort “Globalisierung und Migration”…), wird das Thema Identität auch in Soziologie, Psychologie und Kunst artikuliert.
Doch der Begriff Identität ist leider gar nicht so eindeutig, wie der Wortklang vielleicht suggerieren mag. Wenn man den Terminus Identität philosophisch untersucht, kommt man schnell in die Nähe des Paradoxen, wenn man ihn psychologisch untersucht, gerät man bald in die Nähe des Schizophrenen, mindestens aber des Uneindeutigen. Woran liegt das? Das liegt an der grundsätzlichen Ambivalenz der Welt, an ihrer dunklen und undurchdringlichen Beschaffenheit, an der grundsätzlichen Ambivalenz aller Dinge.

Auch wir selbst sind ja alles andere als eindeutig, auch an uns selbst können wir jederzeit etwas Dialektisches wahrnehmen. Jeder Mensch kennt die beiden ich nenne sie mal „Aggregatszustände“ seiner Existenz, die man manchmal als Einheit, aber oft auch getrennt wahrnimmt: auf der einen Seite unsere körperliche, organische Identität (die nur ganz alleine dem Einzelnen gehört), mit der wir mit der materiellen, der physischen Welt verbunden sind und auf der anderen Seite unsere geistige Identität (unser Bewusstsein, unser Empfinden), mit der wir mit der immateriellen, der spirituellen Welt verbunden sind. Wie nun die geistig/seelische Identität mit der leiblichen Identität verwoben ist, wieso man sich also beim Aufwachen immer wieder mit demselben Körper verbunden fühlt, dies bereits gehört zu den ziemlich grossen Rätseln der Philosophie des Geistes. Aurelius Augustinus hat das Paradoxon vor ca. 1600 Jahren folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Modus quo corporibus adhærent spiritus comprehendi ab hominibus non potest, et hoc tamen homo est.“ (civ. dei XXI, 10)
„Wie die Körper mit den Geistern verbunden sind, ist dem Menschen unbegreiflich, und dennoch ist genau dies sein Wesen”.

Was anhand der Ausführungen über Identität also auffällt, ist die hybride Beschaffenheit des Menschen: seine gleichzeitige Verbindung zu der “realen” Welt, der Erscheinungswelt, der “Welt der Dinge”, die zum Beispiel die Tatsache der Gravitation enthält, als auch zu einer metaphysichen, eben immateriellen Welt, der “Welt des Geistes”, die nur uns Menschen zugänglich ist.

Diese Bedingungen, denen der Mensch ausgesetzt ist, sind Teil seiner condition humaine, und nur unter Berücksichtigung all dieser genannten Einschränkungen kann man das duale Problem der Freiheit überhaupt diskutieren. Dual, denn meinen wir eine “physische” Freiheit der Bewegung, sich auf unseren Körper beziehend, oder meinen wir die berühmte Willensfreiheit, sich auf die vermeintlich autonome Entscheidungsfähigkeit unseres neuronalen Steuerungszentrums beziehend? Machen wir uns diese gigantischen Einzelfragen, zu welchen es ganze Bibliotheken an Annäherungsversuchen und Erklärungsmodellen gibt, anhand einiger Veranschaulichungen deutlich.

Die Freiheitsstrafe ist das plakativste Bild des Entzugs der Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers im Raum, in der menschlichen Vorstellung oft verbunden mit dem schwachen Trost, dass die eigenen Gedanken angeblich Nicht eingesperrt werden können.

Apropos Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers im Raum: ist man freier, wenn man sich statt in einer Zelle in seinem Haus, seiner Wohnung beliebig bewegen kann? In seiner Stadt, in seinem Land, auf seinem Kontinent, im All? Sie ahnen es, überall nichts als Hürden und Hindernisse. Der eigene Lebensraum, die Stadt, das Dorf, bieten zwar ein gewisses Umfeld, das ich zu Fuß durchmessen kann; für weitere Entfernungen benötige ich aber bereits Hilfsmittel der Fortbewegung. Selbst das zu Fuß unterwegs sein bedingt zwingend eine gewisse körperliche Fitness sowie geistige Orientierungsfähigkeit, die man weder in den ersten Jahren seiner Existenz noch zu Zeiten körperlicher oder mentaler Krankheiten zur Verfügung hat. Folglich sind selbst einfachste Freiheitsvorstellungen, die sich auf das beliebige Bewegen unseres Körpers beziehen, einer Vielzahl von Einschränkungen ausgesetzt. Allen voran die bereits erwähnte Kraft der Gravitation, die uns an die Erdoberfläche fesselt, die körperliche Befindlichkeit, materieller Wohlstand (für jedwedes Hilfsmittel, das ich beanspruche, um von A nach B zu gelangen, muss ich bezahlen können); dann äußere Bedingungen und Hindernisse der Bewegungsfreiheit wie unwegsames Terrain oder eine als Folge des Klimawandels immer feindlichere Umwelt; ferner die politische Verfasstheit des Staates, in dem ich lebe und das Eingebettetsein in eine nationale oder transnationale militärische Sicherheitsarchitektur, die individuelle Freiheitsambitionen überhaupt erst ermöglicht; dann Landesgrenzen, dann Voraussetzungen wie der Besitz eines Ausweises oder Reisepasses für größere Entfernungen. Kann man hier wirklich noch pauschal von “Freiheit der Bewegung” sprechen, oder müssen wir zu dem Fazit kommen, dass Freiheit, wörtlich gemeint, eine in erster Linie positiv oder negativ empfundene, subjektive Befindlichkeit ist? Dass, wenn wir über unsere persönliche Freiheit sprechen, wir also eher über eine Freiheit im Konjunktiv, wenn wir über unsere Freiheit als Bürger sprechen, wir eher über die vom Staat dem Bürger gewährten Verwirklichungsmöglichkeiten zu sprechen haben? Und dies gilt unbedingt auch reziprok – also der vom Bürger ausgehende, verwirklichte demokratische Staat – denn “Freiheit” kann niemals passiv gelebt werden, will sie nicht von freiheitsfeindlichen Kräften zurückgedrängt werden. Der Fortbestand, die Lebendigkeit des freiheitlichen, säkularisierten Staates kann bekanntlich nur durch eine aktive zivilisatorische und politische Partizipation ihrer freiheitsliebenden Subjekte, also uns Bürgern, gewährleistet werden.

Im realen Lebenskontext lässt sich “Freiheit” tatsächlich am ehesten daran ablesen, inwieweit der Staat dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Hierzu zählt das Erwerben von Bildung, von Fähigkeiten ebenso, wie die Möglichkeit, einen gewissen materiellen Mindestwohlstand realisieren zu können. Interpretiert man Freiheit als “Kontrolle über das eigene Leben”, spielen Eigentumsverhältnisse nämlich eine große Rolle, wie die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner unlängst an einem Beispiel für Deutschland vorgerechnet hat: “… ein für Freiheit als Nichtbeherrschung und Selbstbestimmung notwendiger Stundenlohn von 18 Euro führt zu einem Jahresgehalt von etwa 37.000 Euro. Derzeit verdienen weniger als 50 Prozent der Beschäftigten in Deutschland mindestens so viel”.

Da wir das Problem der Freiheit ja auch im Kontext der Kunst spiegeln, möchte ich das Beispiel einer anschaulichen künstlerischen Umsetzung des weiter oben zitierten Habens oder Nicht-Habens eines Reisepasses nicht unerwähnt lassen. Im Jahre 2003 ließ der Künstler Santiago Sierra auf der Biennale in Venedig den spanischen Pavillon versperren und Zugang wurde ausschließlich den Besuchern gewährt, die im Besitz eines spanischen Passes waren. Auch äußerst empörte Kuratoren, Künstlerkollegen, Offizielle der Biennale, Journalisten aller Couleur wurden kategorisch abgelehnt bei Fehlen des korrekten Ausweisdokuments. Diejenigen Spanier, die dann in den verbarrikardierten Pavillion reindurften, staunten nicht schlecht über das, was sie im Innern zu sehen bekamen: NICHTS.

De libero arbitrio

Der Tod ist bekanntlich der große Annihilierer, die Negation von allem, was einmal existiert hat und was einmal gedacht wurde. Und Willensfreiheit angesichts gleichzeitig bestehender Determination? Eigentlich ein Widerspruch. Nichtsdestotrotz kommt der Wille und die Frage, steht er mir zur freien Verfügung oder nicht, bei jedem Menschen ins Spiel, der in seiner Identität als Subjekt, als Akteur, erwacht ist. Über den Begriff der Identität, der Eigenwahrnehmung, des Innerlichen, rücken nun auch der Andere, die Außenwelt, die Gesellschaft als der eigenen Freiheit entgegenstehende “Hindernisse” in den Fokus. Da jedes Subjekt einer Gemeinschaft oder Nation angehört, in die es hineingeboren wurde und in welcher sich seine Individuation vollzog, stellt jene folglich einen Bezugsrahmen, eine soziale Form dar, an der sich alle Freiheitsbestrebungen reiben, abarbeiten beziehungsweise diese zu annullieren drohen. Das wichtige Wort an dieser Stelle ist “Bezugsrahmen”, denn “frei” sein können Menschen nur in Bezug aufeinander. Semantisch könnte man Freiheit auch mit dem Begriff Raum verknüpfen, wie es Hannah Arendt in ihrer Analyse totaler Herrschaft negativ vorgenommen hat: (Zitat) “…der Zwang des totalen Terrors, der Menschen in Massen zusammenpreßt, vernichtet so den Raum der Freiheit, alle Beziehungen zwischen ihnen”. (Zitat Ende)

Der positive Raum der Freiheit dagegen ist der Raum der Kommunikation, der die sozialen und politischen Systeme bildet. Das ist die Erkenntnis von Niklas Luhmann. Auch Kunst ist im Übrigen ausschließlich Kommunikation (Kunst ohne ein Gegenüber, welches mit dem Kunstwerk kommuniziert, wäre nicht), jedoch kommuniziert Kunst in der Regel eben nicht diskursiv und mittels Sprache, sondern ihr Ausdruck, ihre Aussage beginnen gerade da, wo die hermeneutischen Möglichkeiten von Sprache versagen. Dadurch kann Kunst dem geistig suchenden Menschen Identität insofern geben, als sie ihm hilft, über das sprachlich Erfassbare hinaus Antworten zu seiner rätselhaften Stellung im Kosmos zu finden.

Um diese ihre Aufgabe zu erfüllen, muss Kunst absolut frei sein.

Wenn sie in autoritären Systemen politischen Direktiven unterliegt, also instrumentalisiert wird, kann sie genau dies nicht mehr leisten, sie wird dann ja gezwungen, im Bereich des Narrativen, der Parolen, der Illustration zu verharren, um an der Indoktrinierung eines Volkes mit den Ideen der herrschenden Eliten mitzuwirken.
Für direkte politische Wirkung ist nun Kunst zu sehr “Soft Power”. Unter totalitärer Herrschaft jedoch kann der Einzelne oftmals nur mit den Mitteln der Kunst ehrenhaft kämpfen bzw. gegen die eigene Instrumentalisierung aufbegehren.

Die intrinsische Affinität der Kunst zu Freiheit führt unter politischem Druck zu stilistischen Ausweichbewegungen.

So geschehen in Lateinamerika, welches in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts unter Diktatoren, Militärs und Autokraten zu leiden hatte, die eben verlangten, dass die Kunst figürlich zu sein und sich gefälligst im Sinne der Machthaber gesellschaftlich nützlich zu machen habe. So kamen Ideen des rationalistischen und nicht-gegenständlichen Kunststils in den frühen 1950er-Jahren als Reaktion auf die Kontroverse um den sogenannten Muralismus zur Anwendung. Repressive Regierungen wie z.B. die mexikanische nutzten den Muralismus, um Propaganda zu verbreiten. Viele Künstler lehnten es aber ab, durch figurative Kunst das politische Regime zu unterstützen. Die Neue Konkrete Kunst (Neo Concretismo) und wenige Jahre später auch die Konzeptkunst (wie z.B.von Lygia Clark oder Hélio Oiticica) konnten unter diesen repressiven Regimen auch deshalb gedeihen, weil die gegebenenfalls in ihnen enthaltenen politischen Botschaften oder provokanten Anspielungen nicht mehr offensichtlich waren. Wer sich schon immer mal gefragt hat, wieso so viele und so überragende konkret oder konzeptuell arbeitende Künstler aus Lateinamerika kamen und diese stilistische Ausrichtung dort bis zum heutigen Tage vorherrscht, findet hierin die Antwort.
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Warum ist das Problem der Freiheit in Kunst und Politik eigentlich immer noch ein Problem, hätte das die Menschheit nicht auch schon gelöst haben können? Das Grundproblem liegt wohl darin, dass immer wieder neue Menschen geboren werden und mit jedem neugeborenen Menschen beginnt nicht nur eine neue Welt, wie gesagt wird, sondern es muss auch immer wieder – Stichwort Bildung – der ganze zivilisatorische Entwicklungsprozess in diesem neuen Bewusstsein durchlaufen und nachvollzogen werden; wenn es denn dazu kommt…: Ein besorgniserregendes Negativ-Beispiel ergab eine Umfrage in Deutschland im Januar 2025. Gut jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland hat noch nie etwas von den Begriffen Holocaust oder Schoah gehört. In Deutschland sagten dies auf eine entsprechende Frage 12 Prozent, in Frankreich sogar 46 Prozent der jungen Leute. (zitiert nach ntv)
Hierzu abschließend noch einmal Hannah Arendt:
“Die Kontinuität menschlichen Zusammenlebens wird immer wieder durch das erschüttert, was wir gemeinhin die Freiheit des Menschen nennen; und das (was sie erschüttert, Anm. R. F.) ist politisch die Geburt jedes neuen Menschen, der in dieses Zusammenleben hineingeboren wird, weil mit jeder neuen Geburt ein neuer Anfang, eine neue Freiheit, eine neue Welt anhebt. Diesen neuen Anfang hegen die Zäune der Gesetze ein und sichern ihm zugleich seine Freiheit, schaffen ihm den Raum, in welchem allein Freiheit sich verwirklichen kann.“

Aber – und das kann man problemlos daraus schlussfolgern – dieser Raum muss von jedem, der in ihn hineingeboren wird, von neuem ausgefüllt werden mit eigenem Nachdenken, akkumuliertem Wissen und einem erarbeiteten moralischen Kompass, damit dieser Anfang des jeweils einen Menschen nicht eines Tages zum Ende aller Menschen wird.

©Roland Fischer

(Lit.: Aurelius Augustinus, Thomas Mann, Hannah Arendt, Stephan Lessenich, Reinhart Koselleck, Jean-Jacques Rousseau, Arthur Schopenhauer, Max Scheler, Hans-Georg Gadamer, Bernhard von Clairvaux, Georges Duby, Dante Alighieri, Bernhard Waldenfels, Marguerite Yourcenar, Andreas Reckwitz, Maturana und Varela, Martin Heidegger, Zygmunt Baumann, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Philippa Sigl-Glöckner, Susan Sontag, Niklas Luhmann u.a.)