Architektur, Zeit und Bewusstsein

Pilar Ribal i Simó

 

„Les temps et les lieux se heurtent, se juxtaposent ou s’in- versent, comme les sédiments disloqués par les tremblements d’une écorce vieillie“.

Marc Augé1

 

 

Während die Gemeinschaften, die noch in einer ewigen Gegenwart leben, ihre Umwelt schützen, indem sie ihr reiches immaterielles Kulturerbe und ihr technisches Wissen mündlich von Generation zu Generation weitergeben, steht der westliche Mensch einer immer heterogeneren, sich ständig verändernden Landschaft gegenüber. Für diesen stetig wachsenden Teil der zivilisierten Menschheit sind die Städte ein „verschobenes Sediment“ vergangener und gegenwärtiger Zeiten, ein beschleunigtes Feld voll Zeichen, deren alte und neue Formen sich vermischen, miteinander um die Sichtbarmachung ihrer Symbolismen wetteifern und sich herausfordernd als unumstößliche Zeugen von Zeit und Bewusstsein aufrichten.

Als enormes Repertoire konstruierten Denkens stärkt das Nebeneinander von Architekturen verschiedener Epochen und Stile in der gleichen menschlichen Landschaft das Gefühl erlebter Zeit und macht die verschiedenen Einflüsse einer über die Jahrhunderte entstandenen Kulturidentität deutlich.

Nur die Homogenität mancher neuer Städte2 verfälscht die Geographie einer Landschaft, in der nichts mehr wirklich scheint, mit ihren imposanten Bildschirmgebäuden und ihren großen Boulevards, mit jenen zum Verwechseln ähnlichen Wohnvierteln, mit schnell wachsenden Bäumen, die die heimischen Arten verdrängen, mit identischen Fahrzeugen, die auf allen Straßen des Planeten zu finden sind, mit den gleichen Restaurantketten, die an jeder Ecke auf uns warten… oder jene industriellen und kommerziellen „Nicht-Orte“3, an denen man das Gefühl für Zeit und Raum verliert, das uns die historischen Städte sehr wohl vermitteln.

Das als „Vergangenheitssehnsucht“ bekannte Phänomen, das den Touristen des 21. Jahrhunderts dazu bewegt, den Kont- rast zu suchen, den die historischen Stadtzentren bieten, die Sehenswürdigkeiten oder jene exotischen Reiseziele des inter- nationalen Kulturtourismus, wo wir noch auf antiken Steinen wandeln können, hat viel mit diesem Bedürfnis nach Unter- scheidung, das den modernen Menschen charakterisiert, zu tun. Wie Marc Augé treffend formuliert, „les ruines existent par le regard qu’on porte sur elles“.4

Je präsenter das Neue wird, desto mehr scheint der moderne Mensch die Stabilität des Bekannten zu brauchen. Angesichts der Vergänglichkeit dieser Gegenwart, in der alles immer flüchtiger wird und nur für den schnellen Kon- sum gedacht ist, wird all das – Umgebung, Monument oder Praxis –, was einen materiellen oder immateriellen historischen Wert besitzt, zunehmend interessanter.

Vor nicht allzu langer Zeit war es üblich, „das Alte“ niederzureißen. Lange bevor die desaströsen Verluste, die Europa während des zweiten Weltkriegs an seinem historischen Erbe erlitt, die Gründung der UNESCO und ihrer berühmten Liste des Weltkulturerbes anregten, ersetzten und veränderten die neuen Generationen selbst die emblematischsten Gebäude ihrer Großväter. Die Sieger nahmen den Besiegten die ihnen eigenen Kulturformen, die neuen Herren führten neue Stile in ihre alten Wohnsitze ein und das Neue, alles Neue… wurde als wünschenswert und gut gefeiert, obwohl dieses Gute oft Synonym für etwas so Vergängliches wie die wechselnden Geschmäcker war, die einander immer schneller ablösten.

Diese Praxis kann man in den zahlreichen architektonischen Schichten der ältesten Städte entdecken und wir finden sie auch in Palma de Mallorca, mit seinen geräumigen Palästen antiken Ursprungs, die mit der Noblesse des Barock verklei- det wurden. Palmas prächtige Kathedrale am Meer ist Gegenstand des letzten fotografischen Werks Roland Fischers, das er eigens für sein Ausstellungsprojekt für die Beletage des Casal Solleric realisiert hat. In diesem alten, auf anti- ken frühchristlichen, römischen und arabischen Steinen errichteten Teil der balearischen Hauptstadt befindet sich der wahrscheinlich einzige christliche Tempel, dessen Turm nach Mekka ausgerichtet ist, im Andenken daran, dass er während der islamischen Besetzung der Insel eine Moschee war, was nur eine seiner vielen Besonderheiten ist5.

Das Aufzeigen der kulturellen Vielfalt der modernen Welt ist eine der Absichten, die Roland Fischers Kamera verfolgt. Der deutsche Künstler der großformatigen Porträts, dieser Meister der perfekten Qualitäten und der eleganten Distanzen, versteht es, seine Bewunderung für die Kunstgeschichte mit seiner Faszination für die zeitgenössische Architektur zu verbinden. In der gleichen Weise, wie er die Büste der Porträts seiner Modelle über dem Wasser abschneidet, um sie dem der Nofretete ähneln zu lassen, kann er sich auch für die radikalsten Beiträge der modernen Architektur interessieren.

Und es gibt wirklich kein Werk Roland Fischers, das nicht über die Spuren des Menschen und der Welt, die uns umgibt, berichtet. Egal, ob er uns seine Liebe für einen verborgenen Garten offenbart oder uns mit der visuellen Schlagkraft einer schönen, abstrakten Fassade verführt, sein Werk erscheint immer als Beispiel der Empathie für Tradition und Innovation. Nicht umsonst können wir in ihm einen unermüdlichen Erforscher von Kulturformen sehen, einen exquisiten Jäger von Bewusstseinszeiten.

Es stimmt, dass die Demokratisierung des Wohnraums aus- gehend von dem unter anderem von Le Corbusier vertretenen Raumkonzept jene sich wiederholende Modulästhetik einführte, von der viele meinen, dass sie nicht mit der No- blesse des Antiken konkurrieren kann. Es stimmt aber auch, dass es die zeitgenössische Architektur schafft, uns mit ihren unglaublichen Vorschlägen zu überraschen, wenn sie sich an Elementen aus der Natur inspiriert oder visuelle Konzepte der traditionellen Malerei umsetzt; durch die Verwendung experimenteller Baustoffe, die es erlauben, ein Gebäude in unvorstellbare Höhen zu erheben, oder durch ihre Fähigkeit, mit den Werken der Vergangenheit zu harmonieren6.

Roland Fischers Blick verfolgt diese wesentliche Tatsache, die- sen fassbaren und unfassbaren Wert, den die gute Architektur zu jeder Zeit und an jedem Ort besitzt. Es besteht kein Zweifel, dass die Beziehung zwischen Fotografie und Architektur nicht idyllischer sein könnte: die Beispiele der Kunstwerke der großen zeitgenössischen Fotografen beweisen das ganz eindeutig. Dank der lobenswerten Bemühungen so vieler Künstler werden die verschiedensten Landschaften wieder aufgewertet, von den nichtssagendsten städtischen Umgebungen bis zu den spektakulärsten Bildern von allen Natur- und Kulturschätzen der Menschheit. Über die Fotografie haben wir auch nicht nur das Schöne im Werk des Menschen entdeckt, sondern auch seine erdrückende Armut und Prekarität. Doch unter allen Blicken auf die Architektur hat der Roland Fischers etwas Besonderes: dieser äquidistante Umgang, der einen antiken Fund genauso feiert wie die Beispiele moderner Kreativität. Das ist wahrscheinlich eine der großen Errungenschaften des Werks des Künstlers: zu errei- chen, dass uns das Bild der renommiertesten Kathedrale oder Sehenswürdigkeit genauso wertvoll erscheint wie die radikalen Umrisse eines anonymen Eigenheims.

Und weil alles seinen Platz und seinen Daseinsgrund hat, enthüllen und veranschaulichen die Alhambra von Granada und die Kathedrale von Palma diese multikulturelle Vergangenheit, in der die Architektur den politischen, religiösen und aristokratischen Mächten diente, während die neuen Bauten und die von Roland Fischer sorgfältig ausgewählten architektonischen Elemente nicht nur die Wirkung wiederspiegeln, die eine von den großen Museen vollkommen assimilierte künstlerische Ästhetik7 und ihre Vervielfältigung in allen Ecken der Welt auf das moderne Bewusstsein hat, sondern auch zeigen, wie sich die Finanzmacht der internationalen Verbände und der großen Privatreichtümer in dieser Exklusivität ausdrückt, die es bedeutet, das Werk eines international anerkannten Architekten sein eigen nennen zu können. Es herrscht Einigkeit darüber, dass der Mensch schon seit der Zeit von „Adams Haus im Paradies“ – Titel des berühmten Essays von Joseph Rykwert8 – seine Weltauffassung, seine Bilderwelt und seine technischen Fähigkeiten in der Architektur projiziert.

Ob es sich nun um arabische Paläste oder asiatische Tempel handelt, um Schatten auf Gebäuden oder um das Detail einer Verzierung, immer gelingt es Roland Fischer – wie Javier Panera treffend bemerkte9 – „das Bestmögliche aus dem szenografischen Potential des fotografischen Mediums herauszuholen (…) indem er diese ‚Sichtbarkeit‘ verstärkt (oder digital korrigiert), um das, was da war, was wir aber nicht wahrzunehmen vermochten, hervortreten zu lassen. Das Hilfsmittel, das er verwendet ist so elementar wie wirksam: der Bildausschnitt wird reduziert und das Format vergrößert“.

Diese besondere Rekonfiguration der Wirklichkeit „nach seinen Regeln“, bei der Fischer die Ränder der Fotokomposition an die Größe eines wirklichen Fensters anpasst, eine ganze Fassade zeigt oder zusätzliche Details in die Komposition einfügt, wurde auch in einem Gespräch mit Bea Espejo erwähnt10, in der der Künstler äusserte, dass es ihm darum ginge, eine „dritte“ Wirklichkeit, wie er es nannte, zu erfassen, eine, „die beweist, dass selbst in der Fotografie Bedeutung nicht auf das beschränkt ist, was wir erkennen können“.

In seinem Essay El beso de Judas. Fotografía y verdad (Der Judaskuss. Fotografie und Wahrheit) zitiert Joan Fontcuberta Kershner, der schrieb, dass „der menschliche Verstand zu allem fähig ist, weil alles in ihm enthalten ist, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft“.11 In diesem Sinn bietet Roland Fischers Ausstellung Architectures im Casal Solleric die einzigartige Möglichkeit, an ein und demselben Ort so viele Werke verschiedener Architekturserien versammelt zu sehen, mit allem Gemeinsamen und Unterschiedlichen, Übereinstimmenden und Abweichenden, das ihnen und dem Blickwinkel des Künstlers eigen ist, sodass bei ihrem Anblick das, was Rosalind Krauss „das optische Unbewusste“ nannte, auf die Probe gestellt wird. Genau diese Fähigkeit, visuelle Informationen miteinander zu verbinden, macht uns zu privilegierten Interpreten dieser an Kultur so reichen Welt, die sich vor uns ausbreitet.

In Fischers Werken, die aus Talent und menschlicher Sensibilität entstehen, können wir sowohl die in den geschichtsträchtigen Architekturkomplexen implizite Schönheit als auch die konstruktive Klarheit eines Werks des 21. Jahrhunderts erkennen. Diese Erfahrung wird uns auch an die Nähe, die zwischen dem Fiktiven und dem Wirklichen besteht, denken lassen und an die intelligente Art und Weise, in der Roland Fischer sich dem Dilemma der Auswahl der Motive stellt, die es wert sind, Objekt seiner Fotoserien zu werden.

Wir werden Details sehen, die unsere Augen ohne die Hilfe der Perfektion der digitalen Bildbearbeitung nicht hätten entdecken können. Wir werden die Nähen und Distanzen analysieren, die diese Studiointerpretationen von der Wirklichkeit trennen, die wir sehen, wenn wir eine Sehenswürdigkeit besuchen oder durch die Straßen einer bestimmten Stadt spazieren. Wir werden dem Einfluss von dem und dem Maler im Programm von diesem oder jenem Architekten nachspüren… und werden, kurz und gut, mit dem Künstler die einzigartige Erfahrung teilen, die Welt durch die Neuformulierung des Wesens des Sichtbaren zu entdecken.

Schließlich werden wir verstehen, dass es keine Zeit ohne Raum gibt und ohne ein Bewusstsein, das sie interpretiert. Dass die Architektur auch Blick und Wahrnehmung ist. Wie schon einmal gesagt, ist Fischers Welt „ohne Frage eine verführerische Welt, ein konzeptueller Raum, an dem die Gegensätze in einer perfekten und harmonischen Konstruktion zusammenleben, in einer mentalen Konstruktion, einer modernen Fabel, die den Bogen unserer Gefühle spannt“.12

 

 

Pilar Ribal ist Direktorin des Museums Casal Solleric

 

 

1. „Die Zeiten und Orte prallen aufeinander, stehen nebeneinander oder kehren sich um, wie durch das Zittern einer gealterten Schale verschobene Sedimente.“Siehe: Augé, Marc: Le temps en ruines. Editions Galilée, Paris, 2013, S. 13.

2. Wie etwa manche Städte Asiens oder der Golfländer, die das Ergebnis einer strengen Planung und schnellen Konstruktion sind.

3. Siehe: Augé, Marc: Nicht-Orte. Beck, München, 2012.

4. „Die Ruinen existieren dank des Blicks, den man auf sie wirft.“ Siehe: Augé, Marc: Le temps en ruines. Editions Galilée, Paris, 2003.

5. Neben dieser Besonderheit ist auch der künstlerische Wert der großen zentralen Rosette zu erwähnen – eine der größten der Gotik –, die Breite und Höhe des Hauptschiffs oder, unter anderem, die Beiträge von Gaudí und Miquel Barceló in den Innenräumen.

6. Wie es unter anderem bei der berühmten Glaspyramide der Fall ist, die als Eingangsbereich zum Museum des Louvre dient.

7. Etwas, das die gesamte Kunst- und Architekturgeschichte durchzieht.

8. Dieser Essay von 1971 analysiert die Idee und Entwicklung des Konzepts der architektonischen Konstruktion im Laufe der Zeit, ausgehend von der mit „Adams Haus“ veranschaulichten primitiven Hütte bis zur Gegenwart.

9. Siehe: Panera, Javier: „El tamaño sí importa – Seducción y ‚abstracción postográfica‘ en la obra de Roland Fischer“. Im anlässlich seiner retros- pektiven Ausstellung im DA2 in Salamanca 2011 erschienenen Katalog.

10. Siehe: Espejo, Bea: „Roland Fischer. ‚España tendrá un papel importante en el futuro del mundo del arte‘“. Interview erschienen in El Cultural, 25. September 2011.

11. Siehe: Fontcuberta, Joan: El beso de Judas. Fotografía y verdad. Editorial Gustavo Gili, S.A., Barcelona, 1997, S. 67.

12. Siehe: Ribal, Pilar: „Roland Fischer, el gran seductor“. In El Cultural, 2. September 2011.

 

 

Pilar Ribal, „ARCHITEKTUR, ZEIT UND BEWUSSTSEIN“ in: Roland Fischer ARCHITECTURES, Museo Casal Solleric, Exhibition Catalog, Palma 2014

 

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