Alex Rühle: Kollektiefenwirkung, in Süddeutsche Zeitung 11.09.2003

 
Kollektiefenwirkung

Die Masse und der Einzelne in Chinemascope: Die Münchner Pinakothek der Moderne zeigt das Werk des Fotografen Roland Fischer

Mitteleuropa, ein einladend heller Museumsbau, hier und da ein Mensch, man hält an der Kasse geziemend Abstand voneinander, überall ist Platz, im Eingangsbereich verliert sich leises Gemurmel. Und plötzlich steht man in chinesischem Gewimmel, inmitten Hunderter von Soldaten, Bauern, Studenten und Arbeitern. Eine Attacke auf das Sehen, kleinstteiliges Gestöber treibt an einem vorbei. Man will diesen Gesichtermassen ausweichen, zurücktreten, steht aber in einem engen Gang, der jedes Zurückweichen erst mal unmöglich macht.

„Kollektive Porträts“ hat der Münchner Fotograf Roland Fischer seine vier neuesten Arbeiten aus China genannt und damit im Titel das paradoxe Flimmern, das diese Bilder beim Betrachten auslösen, angedeutet: „Porträt“ kommt vom lateinischen protrahere, hervorziehen, und bedeutet die Darstellung eines einzelnen Menschen. Im Kollektiv aber wird der Einzelne gerade nicht „vorgezogen“, er muss zurücktreten, sich in die Gruppe integrieren. Fischers Bilder, jeweils 1,20 Meter hoch und vier Meter breit, zeigen je 450 Gesichter aus vier chinesischen Bevölkerungsgruppen. In einer Schrift, klein wie Ameisenbeinchen, steht unter jedem der einzelnen Gesichter der Name der fotografierten Person. Hat man den Eingangsbereich des Ausstellungssaales hinter sich und kann endlich Abstand nehmen von den chinemascopischen Tableaus, verschwimmen die einzelnen Gesichter zu einer streng reglementierten Masse briefmarkenkleiner Köpfe, bevor sie ganz in monochromen tapetengleichen Mustern verschwinden. Und doch zerfallen diese Raster beim Näherkommen wieder in die Porträtaufnahmen einzelner Studenten oder Soldaten. Ihnen gegenüber hängt das Porträt eines Zisterziensermönches, ein ruhiges Gesicht, umflossen von der Kapuze seiner Ordenstracht. Zwischen der Aufnahme dieses einen Mönches und den „Kollektiven Porträts“ liegen fast 20 Jahre – und der Spannungsbogen, der sich durch das ganze Werk von Roland Fischer zieht.

Fischer experimentierte von 1980 an als erster unter den jungen deutschen Fotografen mit großformatigen Porträtaufnahmen, Thomas Ruff folgte sechs Jahre später, dann erst kamen Struth, Hütte und Gursky. Die Münchner Pinakothek der Moderne hat die chinesischen Kollektivporträts nun zum Anlass genommen, in einer Ausstellung einen ersten Überblick über das Werk Fischers zu geben.

Der französische Philosoph Emanuel Lévinas schrieb einmal, das Gesicht sei „Bedeutung ohne Kontext.“ Eine Person: Sohn von soundso, Angestellter bei irgendeinem Unternehmen, hat eine Vorliebe für diese oder jene Sorte Hemden, setzt sich auf die eine oder andere Weise in Szene. Das Gesicht eines Menschen geht über all diese Kontexte hinaus. Es ist „Sinn an sich, . . . das, was sich eben nicht auf die Merkmale dieses Gesichts und dieser Person reduzieren lässt.“

In seinen „Los Angeles Portraits“ hat Roland Fischer Anfang der neunziger Jahre seine Modelle aller sie kontextualisierenden Merkmale im wahrsten Sinne des Wortes entkleidet. Nackt stellt er sie in einen Swimming-Pool und fotografiert ihren Oberkörper, statuarisch stumm wie eine Büste, umflossen nur vom glatten Türkis des Wassers. Ebenso reduziert der klösterliche Habit in der Serie über die Zisterzienser-Mönche das Bild formal auf schwarze und weiße Flächen, zu sehen sind nichts als ein stilles Gesicht und die es umfließende Kapuze. All diese Bilder haben nichts mit erklärender Reportagefotografie zu tun, nichts geben sie preis von den gezeigten Menschen, sie sehen einen allesamt so stumm an wie die Zisterziensermönche, die beim Eintritt in ihren Orden lebenslanges Schweigen geloben. Der porträtierte Mensch aber wird jeweils gerade durch diese Reduktion um so eindringlicher dargestellt. „Das Gesicht,“ so noch einmal Lévinas, „wie es sich hinter seiner Fassade darbietet, zeigt ein Wesen im Moment seines Todes, wehrlos, nackt, Ausdruck fremden Elements.“

Das Gesicht und die Fassade, die Fassade als Gesicht: Fischer und der Kurator Joachim Kaak stellen in der Münchner Schau die freundlich strengen zisterziensischen Mönchsgesichter den Fassaden moderner Hochhäuser gegenüber und spiegeln die „Los Angeles Porträts“ in der Serie von „Kathedralen.“

Fischer überblendet die Frontalaufnahmen der Fassaden französischer und spanischer Kathedralen mit Aufnahmen aus den Innenräumen dieser Kathedralen. Die Bögen und Rhythmen der Fassaden schwappen wie seismische Wellen in den architektonischen Innenraum weiter, das Bild oszilliert zwischen Tiefensog und planem Aufriss. So sind auch diese Bilder irritierende Kippfiguren: Wie der Blick bei den chinesischen Porträts zwischen dem Kollektiv und denen, die es bilden, hin- und herwandert; wie man bei den ernsten Gesichtern die Person dahinter erkennen will und doch immer wieder auf die Oberfläche des Gesichtes zurückgeführt wird, so wird man hier von der frontalen Ansicht der Fassade in die Tiefe des Chores gezogen und gleich wieder nach außen geleitet. Blickt man dann von diesen architektonischen Fugen zurück auf die Gesichter im Pool, so erscheinen einem diese noch kühler, abstrakter. Fischer hat in Bezug auf die Mönchsserie die Gesichter einmal als „Bildmassen, die sich frei verschieben lassen“, definiert

Das deutsche Wort Mönch kommt vom griechischen monos, allein, einzeln, getrennt. Man kann alle Fotografien von Fischer als Monografien begreifen: Auch in der letzten Werkgruppe, den „Fassaden“-Fotografien löst Fischer das jeweilige Gebäude aus dem Kontext seiner Umgebung. Meist zeigt er nur einen Ausschnitt von dessen planer Oberfläche, die so zum abstrakten Muster wird, streng gegliedert wie eine Mondriansche Komposition, fremd und schön wie ein Bauhaustraum – und der flächenhaften Struktur des Rasters der chinesischen Porträts ganz ähnlich.

ALEX RÜHLE